Reverse-Transkriptase-Hemmer

Von: Andrea Lubliner (Pharmazeutin und Fachtexterin für medizinische Fachtexte)
Letzte Aktualisierung: 01.02.2019

auch bezeichnet als:
reverse Transkriptase-Hemmer; reverse Transkriptasehemmer; Reverse-Transkriptase-Inhibitoren

Wirkstoffe

Folgende Wirkstoffe sind der Wirkstoffgruppe "Reverse-Transkriptase-Hemmer" zugeordnet

Anwendungsgebiete dieser Wirkstoffgruppe

Reverse Transkriptasehemmer werden zur Behandlung einer Infektion mit dem menschlichen (englisch: human) Immunschwäche-Virus (HIV) eingesetzt. Obwohl das Virus in allen Körperflüssigkeiten eines infizierten Menschen (wie Blut, Samenflüssigkeit, Scheidenschleim, Speichel und Tränenflüssigkeit) nachweisbar ist, wird es fast ausschließlich über Blut und Blutprodukte oder durch ungeschützte Sexualkontakte übertragen. Eine HIV-infizierte Frau kann das Virus während der Schwangerschaft, bei der Geburt sowie über die Muttermilch an ihr Kind weitergeben.

Gelangt das HI-Virus in den Körper, infiziert es Körperzellen, die bestimmte Rezeptoren (so genannte CD4-Rezeptoren) auf ihrer Oberfläche tragen. Besonders betroffen sind Zellen der körpereigenen Abwehr (Immunsystem). Das Virus vermehrt sich bevorzugt in T-Lymphozyten, diese Zellen werden dabei geschädigt und nach und nach zerstört. In den meisten Fällen kann der Körper die Verluste zunächst ausgleichen, indem er ständig neue Lymphozyten bildet. Aber dem Immunsystem gelingt es nicht, die Viren zu vernichten.

Irgendwann, meist nach einigen Jahren, schafft der Körper es nicht mehr, ausreichend Zellen nachzuliefern. Die körpereigene Abwehr büßt dann zunehmend ihre Funktionsfähigkeit ein. Die Zahl der T-Lymphozyten nimmt kontinuierlich ab, die Anzahl der Viren im Blut (die so genannte Viruslast) hingegen zu. Diese beiden Größen dienen daher zur Beurteilung des Schweregrads einer HIV-Infektion.

Durch die Schwächung der Abwehr wird ein HIV-infizierter Mensch anfällig für sonst eher harmlose Krankheitserreger. Es entwickelt sich das erworbene (englisch: acquired) Immundefizit-Syndrom AIDS. Die Betroffenen leiden an zahlreichen Infekten durch Bakterien, Viren, Pilze oder Parasiten, die ein gesundes Immunsystem leicht abwehren kann. Beispiele sind eine schwere Lungenentzündung durch Pneumocystis carinii oder eine Infektion der Augennetzhaut durch Cytomegalie-Viren (CMV-Retinitis). Auch das Risiko für Krebserkrankungen nimmt zu, so leiden manche AIDS-Patienten an einer bestimmten Form von Hautkrebs (Kaposi-Sarkom) oder an Lymphdrüsenkrebs (Lymphogranulomatose). Die ständigen Infektionskrankheiten schwächen und zerstören den Körper und führen schließlich zum Tod.

Reverse Transkriptasehemmer können die Immunschwäche AIDS bekämpfen beziehungsweise den Ausbruch der Erkrankung verzögern. Derzeit stehen die Wirkstoffe Didanosin, Emtricitabin, Lamivudin, Stavudin, Zalcitabin, Zidovudin, Abacavir, Efavirenz, Delavirdin, Etravirin, Nevirapin, Rilpivirin und Tenofovir zur Verfügung. Sie werden zumeist in Form von Tabletten oder Säften eingenommen und gelangen über den Magen-Darm-Trakt in den Körper.

Wirkung

Viren sind winzige, unbelebte Strukturen, die keinen eigenen Stoffwechsel besitzen. Ihre Erbinformation, die entweder aus Desoxyribonukleinsäure (DNA) oder aus Ribonukleinsäure (RNA) besteht, wird von einem Eiweißmantel (Capsid) geschützt. Manche Viren sind zudem noch von einer Hülle umgeben.

Um sich zu vermehren, müssen die Viren in bestimmte Zellen (Wirtszellen) eindringen. Dort missbrauchen sie Material und Ausstattung der Zellen für ihre Vermehrung. Die virale Erbinformation ist die Bauanleitung zur Bildung viruseigener Eiweiße und damit zur Herstellung neuer Viren.

Das HI-Virus gehört in die Familie der so genannten Retroviren. Es kann verschiedene Körperzellen infizieren, so auch T-Lymphozyten, die bei der Immunabwehr eine wichtige Rolle spielen. Nachdem das Virus in eine Zelle eingedrungen ist, übersetzt das viruseigene Enzym reverse Transkriptase die Virus-RNA in DNA. In dieser Form kann das virale Erbgut in das der Wirtszelle eingeschleust werden. Die Zelle wird fortan gezwungen, entsprechend dieser Bauanweisung HI-Viren zu bilden, die dann weitere Zellen infizieren. Zwar wird die Wirtszelle bei der Freisetzung der neuen Viren nicht zwangsläufig getötet, aber ihr Stoffwechsel nimmt Schaden, sodass ihre Überlebenszeit stark begrenzt ist. Zudem kann sie unter der Kontrolle der Viren ihre eigentliche Funktion im Körper nicht mehr wahrnehmen.

Da die Umschreibung der viralen RNA in DNA eine Voraussetzung für die Vermehrung der HI-Viren ist, können Hemmstoffe der reversen Transkriptase die Zerstörung der T-Lymphozyten aufhalten. Während der Behandlung werden weniger Viren freigesetzt und der Befall neuer Zellen ist stark eingeschränkt. Allerdings bilden Zellen, die bei Therapiebeginn schon infiziert waren und deren Erbgut die Virus-Bauanleitung bereits enthält, weiterhin HI-Viren.

Anhand ihrer Wirkungsweise unterscheidet man nukleosidische (beziehungsweise nukleotidische) reverse Transkriptasehemmer (NRTI) sowie nicht-nukleosidische reverse Transkriptasehemmer (NNRTI):

  • Nukleosidische reverse Transkriptasehemmer (NRTI) sind so genannte Nukleosid-Analoga. Es handelt sich um Wirkstoff-Vorstufen (Prodrugs), die erst im Körper in die aktive Form umgewandelt werden. Diese ähneln chemisch den normalen Bausteinen (Nukleotiden) der Erbsubstanz und werden daher von der reversen Transkriptase mit der wachsenden DNA-Kette verknüpft. Aber ihr Einbau macht das Anhängen weiterer Bausteine unmöglich und es kommt zum Kettenabbruch. Zudem bleibt das Enzym an der Kette hängen und ist nicht mehr aktiv. Zu den nukleosidischen reversen Transkriptasehemmern zählen die Wirkstoffe Abacavir, Didanosin, Emtricitabin, Ganciclovir, Lamivudin, Stavudin, Valaciclovir, ValganciclovirZalcitabin, Zidovudin und . Der Wirkstoff Tenofovir arbeitet nach dem gleichen Prinzip, ist aber chemisch etwas anders aufgebaut und ist daher ein Nukleotid-Analogon.
  • Nicht-nukleosidische reverse Transkriptasehemmer (NNRTI) lagern sich direkt an das Enzym an und blockieren es. In diese Gruppe gehören die Wirkstoffe Efavirenz, Delavirdin, Doravirin, Etravirin, Nevirapin und Rilpivirin.
Leider ist das HI-Virus sehr wandlungsfähig, sodass bei der Behandlung mit Hemmstoffen gegen die reverse Transkriptase rasch Viren entstehen, die unempfindlich (resistent) gegen diese Wirkstoffe sind. Deshalb dürfen Arzneimittel gegen HIV nie allein, sondern nur im Rahmen einer Kombinationstherapie eingesetzt werden. Auf diese Weise werden unterschiedliche Wirkmechanismen miteinander kombiniert, sodass sich die Viren dem Angriff nur schwer entziehen können. Zumeist werden zwei (beispielsweise Lamivudin und Zidovudin) oder sogar drei (zum Beispiel Abacavir, Lamivudin und Zidovudin) Transkriptasehemmer gleichzeitig verabreicht, zusätzlich erhalten HIV-Infizierte oft noch einen HIV-1-Proteasehemmmer.

Aufgrund der stets notwendigen Kombinationsbehandlung sind kaum Aussagen zur Verträglichkeit der einzelnen Transkriptasehemmer möglich. Häufige Nebenwirkungen sind Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, Störungen der Leber- sowie der Nierenfunktion, Fettstoffwechselstörungen, eine vermehrte Anlage von Fettpolstern im Nacken- und Unterbauch-Bereich (Lypodystrophie), Kopfschmerzen, Müdigkeit und ein eingeschränktes Leistungsvermögen, Kribbeln, Taubheitsgefühl oder Schmerzen in Händen oder Füßen (periphere Neuropathie), Veränderungen des Blutbilds wie ein Mangel an weißen Blutkörperchen und Blutarmut, Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, eine Laktatazidose sowie Hautausschläge.

Auch wenn durch die Behandlung die Zahl der HI-Viren in den Körperflüssigkeiten meist deutlich gesenkt werden kann und viele Infizierte sich nahezu gesund fühlen, bleibt das Übertragungsrisiko durch Blut oder Sexualkontakte bestehen.