Ein Mann isst eine Heuschrecke.
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Pica-Syndrom: Ursachen, Symptome und Therapie

Von: Brit Weirich (Medizinautorin, M.A. Mehrsprachige Kommunikation)
Letzte Aktualisierung: 22.08.2022

Erde, Papier, Nägel oder sogar Exkremente: Menschen mit Pica-Syndrom essen Objekte, die nicht zum Verzehr geeignet sind. In einigen Fällen kann die seltene Essstörung fatale gesundheitliche Folgen haben. Betroffen sind meist Kinder, aber auch Erwachsene mit psychischen Grunderkrankungen. Erfahren Sie hier, wie es zum Pica-Syndrom kommt, welche Komplikationen es mit sich bringt und wie eine Behandlung aussehen kann.

Was ist das Pica-Syndrom?

Das Pica-Syndrom (auch Pica, Allotriophagie) ist eine seltene Essstörung, bei der Betroffene Dinge verzehren, die allgemein als ungenießbar gelten. Darunter fallen etwa Erde, Lehm, Papier, aber auch Schmutz oder sogar Exkremente. Nicht immer verursacht das Pica-Syndrom gesundheitliche Beschwerden. In einigen Fällen kommt es jedoch zu Verstopfung, Infektionen oder sogar inneren Verletzungen.

Anders als bei Essstörungen wie Magersucht (Anorexie) und Bulimie ist das Pica-Syndrom keine quantitative, sondern eine qualitative Essstörung. Das Essverhalten ist also krankhaft, was die Qualität und nicht etwa die Menge des Gegessenen betrifft.

Der Begriff Pica-Syndrom geht auf den Pikazismus zurück. Dabei handelt es sich um eine veraltete Bezeichnung für ungewöhnliche Schwangerschaftsgelüste. Heute wird der Begriff teilweise noch synonym für das Pica-Syndrom verwendet.

Wer ist vom Pica-Syndrom betroffen?

Am Pica-Syndrom erkranken vor allem Kinder, gefährdet sind vor allem Opfer von Verwahrlosung. Doch auch Erwachsene können betroffen sein. Besonders anfällig sind Menschen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung wie Schizophrenie. Auch Demenz und Autismus sowie eine Schwangerschaft können die Entstehung der Störung begünstigen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Genaue Zahlen sind bislang jedoch nicht bekannt. Fachleute gehen davon aus, dass die Essstörung nicht immer diagnostiziert wird.

Übrigens: Das Pica-Syndrom tritt auch bei Tieren auf. Vor allem unter Katzen und Hunden ist die Störung verbreitet. Fachleute vermuten wie beim Menschen auch bei Tieren unter anderem neuropsychologische Ursachen, was eine erfolgreiche Behandlung der Vierbeiner deutlich erschwert.

Wie äußert sich das Pica-Syndrom?

Menschen, die vom Pica-Syndrom betroffen sind, essen Dinge, die nicht dem menschlichen Verzehr dienen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um

  • Erde und Lehm (Geophagie),
  • Eis/gefrorenes Wasser (Pagophagie), 
  • Sand und Asche,
  • Kalk und Kreide,
  • Bestandteile von Pflanzen,
  • Textilien,
  • Nägel und Scherben,
  • Holz und Papier (Xylophagie) oder
  • Haare (Trichophagie).

Mitunter werden auch Dinge verzehrt, die allgemein als ekelerregend gelten, so etwa

  • Abfall,
  • Staub oder
  • Exkremente (Koprophagie).

Folgen und Komplikationen des Pica-Syndroms

Oft essen Betroffene nur Kleinteile, die zunächst nicht gesundheitsgefährdend erscheinen. Je nachdem, welche Dinge oder Objekte verzehrt werden und in welcher Häufigkeit das gestörte Essverhalten auftritt, kann das Pica-Syndrom jedoch schwerwiegende Folgen haben. So kann es zu folgenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen:

  • Beschwerden des Verdauungstraktes: Die gegessenen Objekte können vom Darm nicht verdaut werden, weshalb es etwa zu schwerer Verstopfung und in der Folge zu einem Darmverschluss, seltener zu einem Dammriss kommen kann.
  • Innere Verletzungen: Werden spitze oder scharfe Gegenstände wie Nägel oder Scherben gegessen, können die Speiseröhre, der Magen oder der Darm verletzt werden.
  • Infektionen: Durch das Verspeisen von Exkrementen oder Schmutz kann es zu gefährlichen Infektionen kommen.
  • Vergiftungen und Verätzungen

Wenn das Pica-Syndrom lange anhält, ist eine häufige Folge außerdem Unterernährung: Betroffene verlieren stark an Gewicht, da neben den ungenießbaren Gegenständen kaum richtige Lebensmittel mit Nährwert verspeist werden. Dadurch kommt es meist auch zu einer Mangelernährung. So fehlen Erkrankten etwa Vitamine oder Mineralstoffe. Das ist besonders bei Schwangeren und Kindern gefährlich.

Sind Kinder betroffen, kann auch Verwahrlosung ein Warnsignal sein: Das Pica-Syndrom bildet sich häufig bei Opfern von Vernachlässigung.

Wie wird das Pica-Syndrom diagnostiziert?

Damit das Pica-Syndrom diagnostiziert werden, müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein:

  1. Die gegessenen Substanzen enthalten keinen Nährwert.
  2. Das gestörte Essverhalten tritt mindestens seit einem Monat auf.
  3. Das Verspeisen ungenießbarer Dinge entspricht nicht dem altersgemäßen Entwicklungsstand der Person. So kommt es immer wieder vor, dass sich kleine Kinder nicht-essbare Objekte in den Mund stecken. Das Pica-Syndrom wird daher in der Regel erst ab dem zweiten Lebensjahr diagnostiziert.
  4. Das gestörte Essverhalten gründet nicht auf kulturbedingten Normen. In einigen Kulturen gilt es etwa als Tradition oder Brauch, Objekte zu essen, bei denen es sich nicht um Nahrungsmittel handelt.

In vielen Fällen konsultieren Betroffene die ärztliche Praxis nicht eigenständig, da häufig Kinder oder Menschen mit verzögerter Entwicklung oder anderen Einschränkungen betroffen sind. Das kann ein aufschlussreiches Anamnesegespräch erschweren, weshalb vor allem eine körperliche Untersuchung bedeutsam ist. Dazu gehören:

  • Überprüfung des Gewichts
  • Überprüfung auf Mangelerscheinungen, etwa brüchiges Haar, brüchige Nägel oder Blässe
  • Blutuntersuchung, etwa bei Verdacht auf Nährstoffmangel oder eine Bleivergiftung
  • Bildgebende Verfahren, z. B. Röntgenaufnahme bei Verdacht auf Darmverschluss
  • Stuhluntersuchung bei Verdacht auf parasitäre Infektionen

Liegt der Verdacht nahe, dass eine andere psychische Grunderkrankung ursächlich für das Pica-Syndrom ist – etwa Schizophrenie oder Demenz – können entsprechende Tests und Fragebögen bei der Diagnose helfen. Unter Umständen ist hierzu auch eine Überweisung an eine*n Fachärztin*Facharzt erforderlich.

Essen von Haaren: Trichophagie

Einige Pica-Betroffene essen unter anderem Haare. Diese Verhaltensweise kann jedoch auch ein Hinweis auf eine andere Erkrankung sein: Im Rahmen der Trichotillomanie, einer Impulskontrollstörung, verspüren Betroffene den ständigen Drang, sich die Haare auszurupfen. Ist dieses Phänomen mit dem Aufessen der Haare verknüpft, sprechen Fachleute von einer Trichophagie, umgangssprachlich auch als Rapunzelsyndrom bekannt.

Wenn die Trichotillomanie die Symptome des Verspeisens von Haaren vollständig erklärt und die Betroffenen darüber hinaus keine weiteren ungenießbaren Dinge essen, wird das Pica-Syndrom nicht zusätzlich diagnostiziert.

Wie entsteht das Pica-Syndrom?

Fachleute gehen davon aus, dass verschiedene Faktoren zur Bildung des Pica-Syndroms führen können. Je nachdem, ob Kinder oder Erwachsene betroffen sind, können die Ursachen stark variieren.

Pica-Syndrom bei Kindern

Expert*innen vermuten, dass psychosoziale Faktoren in der frühen Kindheit ursächlich für die Entstehung des Pica-Syndroms sind. Vor allem Vernachlässigung kann die Essstörung begünstigen. Denn wenn Kinder in einem besonders reizarmen Umfeld aufwachsen, dient das Verspeisen von Objekten als Kompensation.

Einige Fachleute gehen zudem davon aus, dass Traumata wie Gewalt oder Missbrauch dazu führen können, dass das Kind sich in seiner Entwicklung unbewusst zurückbewegt und in das Alter zurückfällt, in dem es normal ist, sich Objekte in den Mund zu stecken.

Auch eine Intelligenzminderung und ein damit einhergehendes fehlendes Bewusstsein für Ernährung kann zum Pica-Syndrom führen.

Pica-Syndrom bei Erwachsenen

Sind Erwachsene vom Pica-Syndrom betroffen, kann eine andere psychische Grunderkrankung ursächlich sein. Besonders verbreitete Komorbiditäten sind Schizophrenie, Demenz und Autismus. Auch eine Schwangerschaft führt mitunter zu der seltenen Essstörung. Untersuchungen zufolge sind vor allem schwangere Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten betroffen.

Körperliche Ursachen

Fachleute vermuten, dass das Pica-Syndrom auch durch somatische Faktoren ausgelöst werden kann. So kann ein Mangelzustand, etwa Eisenmangel, zu Heißhunger auf Stoffe führen, die nicht für den Verzehr geeignet sind. Allerdings gibt es bislang keine sicheren Belege für diese These. Eine genetische Veranlagung scheint es laut aktuellem Kenntnisstand nicht zu geben.

Wie wird das Pica-Syndrom behandelt?

Zunächst wird geprüft, ob eine akute medizinische Behandlung möglicher Symptome erforderlich ist. So kann eine operative Entfernung von verschluckten Fremdkörpern notwendig sein, da diese zu Schäden im Verdauungstrakt führen können. Auch Vergiftungserscheinungen, etwa durch eine Bleivergiftung, müssen schnellstmöglich behandelt werden, indem bindende Medikamente verabreicht werden. So kann das Blei durch den Urin wieder ausgeschieden werden.

Werden Untergewicht und Nährstoffmangel als Folge des Pica-Syndroms festgestellt, kann etwa eine Ernährungsberatung helfen. Sind Betroffene aufgrund einer Intelligenzminderung oder anderen geistigen Einschränkung kognitiv nicht dazu in der Lage, einer solchen Beratung zu folgen, können Angehörige helfen. Mithilfe eines Ernährungsplans können nährstoffreiche Lebensmittel in die tägliche Ernährung integriert werden und den Mangelerscheinungen entgegenwirken. Neben einer ausgewogenen Ernährung können auch Nahrungsergänzungsmittel wie Eisenpräparate hilfreich sein.

Verhaltenstherapie beim Pica-Syndrom

Eine Verhaltenstherapie stellt in vielen Fällen des Pica-Syndroms eine wirksame Behandlung dar, wobei verschiedene Ansätze infrage kommen können. Ziel der Therapie ist es, dass Betroffene lernen, welche Objekte nicht zum Verzehr geeignet sind und auf welche alternativen Lebensmittel sie zurückgreifen können. Auch psychotherapeutische Ansätze können wirksam sein. Diese setzen allerdings eine ausreichende Reflexionsfähigkeit der Betroffenen voraus, was beim Pica-Syndrom oft nicht gegeben ist.

Medikamentöse Behandlung

Bislang beruhen Erfolge mit Arzneimitteln zur Behandlung des Pica-Syndroms lediglich auf Einzelfallstudien; systematische Untersuchungen fehlen noch. Folgende Medikamente werden mitunter zur Therapie eingesetzt:

Da dem Pica-Syndrom häufig andere Erkrankungen zugrunde liegen – etwa Schizophrenie –, bessert sich die Störung oft mit einer erfolgreichen Behandlung der Grundkrankheit.

Bei betroffenen Kindern sowie Personen mit einer Intelligenzminderung ist eine umfassende Beaufsichtigung notwendig. Da Angehörige dies oft nicht leisten können, kann eine stationäre oder teilstationäre Unterbringung sinnvoll sein.

Verlauf und Prognose beim Pica-Syndrom

Der Krankheitsverlauf der Essstörung kann sehr unterschiedlich sein. In einigen Fällen tritt das Pica-Syndrom lediglich als vorübergehende Verhaltensstörung auf. Vor allem bei Kindern verschwindet sie nach einiger Zeit oft von allein wieder, während andere Betroffene das gestörte Essverhalten nie oder zumindest nicht vollständig ablegen.

Generell gilt: Je früher das Pica-Syndrom diagnostiziert und behandelt wird, desto besser stehen die Chancen auf Heilung. Das gilt auch für mögliche psychische Grunderkrankungen, die der Essstörung zugrunde liegen.

Lässt sich dem Pica-Syndrom vorbeugen?

Dem Pica-Syndrom lässt sich nur bedingt vorbeugen. Vor allem Eltern können jedoch einiges tun, um das Risiko für das Kind zu reduzieren:

  • Fürsorge, Zuneigung und eine enge Bindung sind essenzielle Grundvoraussetzungen für die Entwicklung einer gesunden Psyche beim Kind.
  • Ausreichend mentale Anregung kann verhindern, dass das Kind aus Langeweile zu Objekten greift, um diese zu verzehren.
  • Bei Verdacht auf mögliche Entwicklungsverzögerungen oder psychische Erkrankungen sollte ärztlicher Rat eingeholt werden.

Da das Pica-Syndrom vermutlich auch körperliche Ursachen haben kann, sollte zudem immer auf eine ausgewogene Ernährung geachtet werden. Besteht ein Verdacht auf Nährstoffmangel, kann ein Blutbild Aufschluss geben. Liegt tatsächlich ein Mangel vor, können Nahrungsergänzungsmittel und eine angepasste Diät helfen.