Funktionen und Fehlfunktionen des Immunsystems
Voraussetzung für unsere Gesundheit ist die Fähigkeit des Immunsystems, gleichermaßen für Immunität und Toleranz zu sorgen – das heißt: auf körperfremde Stoffe mit kontrollierter Abwehr zu reagieren und die Immunantwort gegen körpereigene Stoffe zu hemmen. Wenn das Gleichgewicht zwischen diesen Funktionen gestört ist und es so zu Fehlfunktionen des Immunsystems kommt, kann eine gesteigerte oder fehlende Entzündungsreaktion die Folge sein.
Entzündungsreaktion
Eine Entzündung (lat. inflammatio) ist eine allgemeine Abwehrreaktion des Immunsystems auf verschiedenartige schädigende Reize: Im Normalfall beseitigt die Entzündungsreaktion die schädigenden Reize und ihre Folgen. Auslöser von Entzündungsreaktionen sind zum Beispiel:
- Krankheitserreger wie Bakterien, Viren, Pilze oder Parasiten, aber auch
- chemischeSubstanzen wie Säuren oder Basen,
- physikalischeFaktoren wie Temperatur oder Strahlung,
- mechanische Einflüsse wie Reibung, Druck oder Fremdkörper und
- endogeneReize (d. h. vom Körperinneren wirkend) wie der Zerfall von Zellen bei bösartigen Tumoren.
Die auffälligen örtlichen Merkmale einer Entzündungsreaktion sind:
- Rötung (= Rubor)
- Schwellung (= Tumor)
- Erwärmung (= Calor)
- Schmerz (= Dolor)
- Störung der normalen Funktionen (= functio laesa) des betroffenen Gewebes
Diese klassischen Entzündungszeichen sind seit dem Altertum bekannt und wurden von Aulus Cornelius Celsus im ersten Jahrhundert nach Christus beziehungsweise rund 100 Jahre später von Claudius Galenos (Galen) aus Pergamon beschrieben – lange bevor klar war, dass es sich um Anzeichen einer vom Immunsystem gesteuerte Entzündungsreaktion handelt.
Lesetipp: Historisches zum Immunsystem
Das Immunsystem des Menschen verfügt über zwei unterschiedliche Abwehrmechanismen: die unspezifische und die spezifische Immunantwort. Die bei der Entzündungsreaktion ablaufenden spezifischen und unspezifischen Abwehrmechanismen sind eng miteinander verknüpft.
Für eine der stärksten entzündlichen Reaktionen sind bestimmte Abwehrzellen des unspezifischen Immunsystems (Fresszellen bzw. Phagozyten) verantwortlich: die sogenannten Mastzellen. Dabei sorgen bestimmte Krankheitserreger oder Fremdkörper dafür, dass sich Abwehrstoffe (IgE-Antikörper) bilden, die sich wiederum an Mastzellen binden, sodass es zu einer Reaktion zwischen Mastzellen und Krankheitserregern kommt.
Mastzellen enthalten Substanzen wie Histamin, Serotonin, Heparin und verschiedene Enzyme, die man als Entzündungsmediatoren (= Entzündungsvermittler) bezeichnet. Bei Kontakt mit einem Krankheitserreger werden die Mastzellen aktiv und schütten diese Substanzen aus. Die Freisetzung dieser Stoffe ruft die typischen Symptome einer Entzündung hervor: So erweitert Histamin die Blutgefäße, wodurch sich das betroffene Gewebe rötet und erwärmt. Darüber hinaus reizt Histamin die Nerven im Gewebe und löst an dieser Stelle Schmerzen aus.
Wenn Entzündungen entstehen, wird die Gefäßwand durchlässig. Dadurch tritt eiweißhaltige Flüssigkeit (=Exsudat) in das Gewebe aus. Die betroffene Region schwillt an und es bildet sich ein Ödem.
Die verschiedenen in den Mastzellen gespeicherten Enzyme bewirken, dass sich weitere Entzündungsmediatoren (wie Prostaglandine, Leukotriene und Bradykinin) bilden, die ähnlich wirken wie Histamin und die Entzündungsreaktion verstärken. Gleichzeitig beschleunigt sich die Einwanderung von Fresszellen des unspezifischen Immunsystems. Die Fresszellen greifen die körperfremden Zellen an und transportieren sie ab. Daneben sorgen sie für die Freisetzung weiterer Stoffe wie der sogenannten Akute-Phase-Proteine, die Symptome wie Fieber, Abgeschlagenheit, Gliederschmerzen und Gewichtsverlust hervorrufen. Während all dieser Prozesse kommunizieren die beteiligten Zellen des Immunsystems durch unzählige Botenstoffe miteinander, zu denen beispielsweise die Gruppe der sogenannten Interleukine zählt.
Allergien
Wenn beim Immunsystem des Menschen einzelne Funktionen gestört sind und Fehlfunktionen auftreten, kann dies in Form von Allergien geschehen. Eine Allergie ist die Folge einer überschießenden Reaktion des Immunsystems: Der bereits sensibilisierte (immunisierte) Organismus reagiert überempfindlich auf ein Antigen (= fremder Eiweißstoff, der im Körper die Bildung von Abwehrstoffen bewirkt), mit dem er zuvor bereits Kontakt hatte. Dabei kommt es zur Schädigung von Zellen und Gewebe. Diese Schädigung kann:
- entweder in Form einer Entzündung örtlich begrenzt bleiben
- oder in Form von einem Schock den gesamten Organismus betreffen.
Abhängig davon, von welchen Immunzellen des spezifischen Immunsystems die Überempfindlichkeitsreaktion ausgeht (ob vom T- oder B-Zellsystem), unterscheidet man bei Allergien die folgenden Reaktionstypen:
Typ-I-Reaktion:
Diesen auch anaphylaktische Reaktion genannten Reaktionstyp (griech. ana = voneinander, phylaxis = Schutz) setzt man im heutigen Sprachgebrauch häufig mit dem Begriff Allergie gleich. Allergien vom Typ I spielen vor allem bei der Auseinandersetzung des Immunsystems mit Allergenen wie Gräserpollen (bei Heuschnupfen), Nahrungsmittelbestandteilen (z. B. Hühnereiweiß), Insektengiften (z. B. durch Bienenstich) oder Arzneimitteln (z. B. Penicillin) eine Rolle.
In Mitteleuropa sind etwa 15 Prozent der Bevölkerung von einer Allergie vom Typ I betroffen. Bei anaphylaktischen Reaktionen kommt es durch eine Aktivierung von Mastzellen aufgrund der Bildung von IgE-Antikörpern zur Freisetzung von Entzündungsmediatoren.
Innerhalb von Sekunden bis Minuten können als Sofortreaktionen zum Beispiel Atemnot, Asthmaanfall, Juckreiz oder Rötung und Schwellung der Haut (= Urtikaria) bis hin zu einer allgemeinen Schockreaktion des Körpers (= anaphylaktischer Schock) auftreten. Diese Symptome klingen meist rasch ab. Allerdings sind noch etwa zwei bis acht Stunden nach dem akuten Ereignis schwere Spätreaktionen möglich.
Typ-II-Reaktion:
Dieser auch zytotoxische Reaktion genannte Reaktionstyp umfasst überschießende Reaktionen des Immunsystems, deren Auslöser IgM- und IgG-Antikörper sind. Allergien vom Typ II spielen hauptsächlich bei der Abstoßung von transplantierten Organen, bei Bluttransfusionen und bei sogenannten Autoimmunerkrankungen eine Rolle. Die ausgelösten Entzündungsreaktionen erreichen frühestens 4 bis 10 Stunden nach dem Kontakt mit dem Antigen ihr Maximum.
Typ-III-Reaktion:
Dieser Reaktionstyp entsteht durch die Bildung und Ablagerung sogenannter Immunkomplexe: Diese Antigen-Antikörper-Komplexe zirkulieren im Blut und in anderen Körperflüssigkeiten, lagern sich an den Gefäßwänden oder im Gewebe ab und lösen dort Entzündungsreaktionen aus. Je nachdem, ob sich die Immunkomplexe im gesamten Gefäßsystem oder nur in einzelnen Bereichen ablagern, unterscheidet man den gesamten Organismus betreffende (bzw. systemische) und örtlich begrenzte (bzw. lokale) Typ-III-Reaktionen.
Systemische Reaktionen des Immunsystems gehen mit Fieber, Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen, Gefäßentzündungen, Nierenentzündung und Vergrößerung der Lymphknoten einher. Dieses Beschwerdebild nennt man auch Serumkrankheit, da er bei der früheren Therapie von Diphtherie (mit artfremden Antikörpern z. B. vom Pferd) auftrat. Zu den möglichen Grunderkrankungen gehören Lupus erythematodes (SLE) und rheumatoide Arthritis. Die örtlich begrenzte Überempfindlichkeitsreaktion vom Typ III bezeichnet man als Arthusreaktion. Sie tritt zum Beispiel bei Zöliakie (= Glutenunverträglichkeit) auf.
Typ-IV-Reaktion:
Dies ist eine zellvermittelte Spätreaktion des Immunsystems. Ihre Vermittlung geschieht durch T-Lymphozyten und angelockte Lymphozyten und Makrophagen, die nicht spezifisch gegen das Antigen sensibilisiert sind. Ihr Maximum erreicht die allergische Reaktion erst 24 bis 48 Stunden nach dem Kontakt mit dem Antigen.
Allergien vom Typ IV entstehen typischerweise durch auf die Haut aufgebrachte Substanzen (= Kontaktallergie, z. B. Nickelallergie), durch krankmachende Keime (Infektallergie, z. B. bei Tuberkulose oder Pilzinfektionen) und durch Antigene von Fremdgewebe nach Transplantationen.
Autoimmunerkrankungen
Je nachdem, welche Funktionen des Immunsystems gestört sind, kann sich das Immunsystem fälschlicherweise gegen körpereigenes Gewebe richten. Solche Fehlfunktionen sind für Autoimmunerkrankungen kennzeichnend.
Das Immunsystem hat unter anderem die Funktion, jede körperfremde Eiweißstruktur (Antigen) zu erkennen und auf sie zu reagieren. Darüber hinaus erkennen Zellen, die zu einer Immunantwort fähig sind (sog. immunkompetente Zellen), auch körpereigene Strukturen, ohne jedoch zu reagieren, da sie in der Embryonalentwicklung und während der ersten Lebensmonate lernen, körpereigene Strukturen zu tolerieren: Dies nennt man Autoimmuntoleranz (griech. autos = selbst, eigen).
Bei Autoimmunerkrankungen ist diese Autoimmuntoleranz durchbrochen – das Immunsystem greift die körpereigenen Gewebe in einer sogenannten Autoimmunreaktion an und schädigt sie. Bereits Paul Ehrlich erkannte die Gefahr solcher Fehlfunktionen des Immunsystems und nannte sie horror autotoxicus.
Wie eine Autoimmunerkrankung entsteht, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Vermutlich entwickeln sich solche Fehlfunktionen des Immunsystems auf Grundlage von Infektionen mit Bakterien, Viren oder anderen Mikroorganismen, deren antigene Strukturen teilweise identisch mit denen von körpereigenen Zellen sind.
Als Reaktion auf die Erreger-Antigene bildet das Immunsystem Abwehrstoffe (Antikörper), die sich auch gegen das körpereigene Gewebe richten (sog. Kreuzreaktion). Verbleiben diese Autoantikörper im Blut, nachdem die Infektion abgeklungen ist, entwickeln sich chronische Autoimmunerkrankungen, die in der Regel in Schüben verlaufen und verschiedene Organe und Gewebe betreffen können.
Beispiele für Autoimmunerkrankungen sind:
Bildung von Tumoren
Auch wenn das Immunsystem in seiner Funktion ungestört ist, können Krankheiten entstehen: Während für eine Allergie oder Autoimmunkrankheit Fehlfunktionen des Immunsystems verantwortlich sind, kann eine Bildung von Tumoren trotz vorhandener Immunantwort stattfinden.
Eine wesentliche Funktion des Immunsystems besteht darin, körpereigene Zellen, deren DNA durch sogenannte Mutationen (lat. mutare = verändern) krankhaft verändert ist, als fremd zu erkennen und auszumerzen.
Die DNA des menschlichen Organismus mutiert ständig – diese Mutationen entstehen entweder von selbst oder durch bestimmte Faktoren (wie Strahlung oder chemische Substanzen). So mutiert pro Tag durchschnittlich 1 von 1.000.000 Trägern der Erbanlage (sog. Gene) – das heißt: Bei geschätzten 50.000 Genen pro menschlicher Zelle unterliegt pro Tag etwa jede 20. Zelle einer Mutation.
Dies bleibt jedoch meistens ohne Auswirkungen, da verschiedene Reparatursysteme die Mutationen beheben beziehungsweise das Immunsystem die betroffenen Zellen erkennt und beseitigt. Bei der Bildung von Tumoren liegt der Fall aber anders:
Gegen bösartig veränderte Tumorzellen ist in vielen Fällen zwar auch eine Immunantwort zu beobachten, für deren Vermittlung hauptsächlich Immunzellen des spezifischen Immunsystems (T-Lymphozyten und teils B-Lymphozyten) mit Antikörperproduktion verantwortlich sind. Allerdings sind die Funktionen der Immunabwehr bei Krebs oft unwirksam und können die Tumorbildung nicht verhindern, denn: Tumoren verfügen häufig über eine Reihe von Mechanismen, die sie vor der Immunantwort schützen (sog. Escape-Phänomene). Die Tumorzellen sind dadurch für das Immunsystem unkenntlich und können wachsen und sich im Körper ausbreiten.
Immunschwäche (Immundefekt)
Sind die Funktionen des Immunsystems zur Abwehr von Krankheitserregern gestört, liegt eine sogenannte Immunschwäche (bzw. Immundefekt oder Immunmangel) vor. Das Krankheitsbild, das durch solche Fehlfunktionen des Immunsystems entsteht, bezeichnet man als Immunmangelsyndrom.
Eine Immunschwäche kann entweder angeboren (= primär) oder erworben (= sekundär) sein und sowohl das spezifische als auch das unspezifische Immunsystem betreffen. Das wichtigste Symptom für einen Immundefekt besteht darin, dass die Betroffenen besonders anfällig für Infekte sind: Da ein schwaches Immunsystem seine Funktion der Infektabwehr nicht mehr ausüben kann, ist die Immunantwort bei Kontakt mit Erregern ungenügend oder bleibt ganz aus. Gleichzeitig neigt ihr Organismus dazu, Autoimmunerkrankungen, Allergien und bösartige Tumoren auszubilden.
Primäre Immunschwäche
Bei einer angeborenen (primären) Immunschwäche ist entweder die Entwicklung von der unreifen Zelle zur reifen Zelle, die zu einer Immunantwort fähig ist (sog. immunkompetente Zelle), gestört oder es liegt ein Enzymdefekt vor. Solche Erkrankungen des Immunsystems zeigen sich in der Regel bereits im Kindesalter.
Wer entweder keine oder nicht genügend Abwehrstoffe (sog. Antikörper) gegen fremde Eiweiße bilden kann, neigt stärker zu bakteriellen Infektionen. Ist dagegen die zellvermittelte Immunität geschwächt, entwickeln die Betroffenen verstärkt Infektionen durch Viren oder Parasiten. Vor allem kombinierte Fehlfunktionen, bei denen die Immunzellen des spezifischen Immunsystems (sowohl die B- als auch die T-Lymphozyten) betroffen sind, wirken sich lebensbedrohlich aus.
Sekundäre Immunschwäche
Bei einer erworbenen (sekundären) Immunschwäche ist eine andere Erkrankung direkt oder indirekt für das gestörte Immunsystem verantwortlich, wodurch sich die Abwehrschwäche erst im Laufe des Lebens zeigt. Dabei können die gestörten oder fehlenden Funktionen des Immunsystems entweder bestimmte Organe des Immunsystems betreffen (bei Erkrankungen des Bluts, z. B. Leukämie, Plasmozytom, Morbus Waldenström) oder sich durch einen Mangel an immunkompetenten Zellen äußern (z. B. erhöhter Verlust von Antikörpern beim nephrotischen Syndrom, Schwächung der zellulären Immunität bei Aids).
Den bei Immunschwäche herrschenden Zustand kann man auch künstlich hervorrufen: Dies geschieht bei bestimmten Erkrankungen des Immunsystems zu Therapiezwecken. Die künstlich Unterdrückung von Immunreaktionen heißt Immunsuppression. Sie kommt zur Behandlung schwerwiegender Autoimmunerkrankungen und nach Transplantationen zum Einsatz, um Abstoßungsreaktionen zu verhindern.