Eine junge Frau nimmt eine Tablette ein.
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Contergan

Von: Onmeda-Redaktion
Letzte Aktualisierung: 11.02.2021

In den 1950er Jahren empfahlen Ärzte Schwangeren gegen Schwangerschaftsübelkeit und Schlafstörungen das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan (Wirkstoff Thalidomid). Welche weitreichenden Auswirkungen das haben würde, konnte damals noch niemand ahnen.

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

Contergan

Wurde Contergan – wie in den meisten Fällen von Morgenübelkeit der Fall – in der Frühschwangerschaft eingenommen, führte das zu schweren Missbildungen bei den ungeborenen Kindern. In den Jahren 1958 bis 1961 wurden weltweit etwa 10.000 Kinder mit Fehlbildungen der Gliedmaßen geboren – rund die Hälfte dieser Kinder starb kurz nach der Geburt.

Was ist Contergan?

Contergan war ein rezeptfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel, das in den 1950er-Jahren von Frauen und Männern eingenommen wurde. Auch Schwangere nahmen Contergan ein, da es Schwangerschaftsbeschwerden wie die Morgenübelkeit linderte.

Contergan enthielt den Wirkstoff Thalidomid. Thalidomid wurde 1956 von dem Chemiker Dr. Heinrich Mückler entwickelt und im Oktober 1957 durch die Firma Grünenthal GmbH in Stollberg bei Aachen als Schlaf- und Beruhigungsmittel in den Handel gebracht. Im November 1961 wurde Contergan, nach Bekanntwerden der schwerwiegenden Nebenwirkungen, vom Markt genommen.

Contergan ist bis heute ein Mahnmal für die Bedeutung der Qualität und vor allem der Sicherheit von Arzneimitteln. Zudem soll Contergan als Symbol für die Dringlichkeit stehen, das ungeborene Leben bei medizinischen Behandlungen und Untersuchungen optimal zu schützen.

Der Contergan-Skandal

Die Verwendung von Contergan in der Frühschwangerschaft führte zu einem der schwerwiegendsten Arzneimittelskandale der Bundesrepublik Deutschland. Dies betrifft zum einen den Schweregrad der Schädigung und die Anzahl der Contergan-Kinder und zum anderen die Art der Bewältigung dieses Vorgangs. Contergan ist ein tragisches Beispiel für die damals unzulängliche Arzneimittelsicherheit.

Contergan galt als besonders sicher. Zu der damaligen Zeit waren viele Schlafmittel im Handel, die bei Überdosierungen ein hohes Risiko für eine Vergiftung beinhalteten. Die tödliche Dosis von Contergan war jedoch so hoch, dass es praktisch unmöglich war, sich mit diesem Arzneimittel versehentlich zu vergiften oder gar Selbstmord zu begehen.

Dass ungeborene Kinder durch die Einnahme von Medikamenten in der Schwangerschaft geschädigt werden könnten, wurde zu der damaligen Zeit noch nicht ausreichend bedacht.

Contergan durchdringt die Plazentaschranke (es ist "plazentagängig"), gelangt damit in den Blutkreislauf des Embryos und beeinflusst die Organentwicklung negativ. Wurde Contergan in der frühen Schwangerschaft eingenommen, also etwa in der 4. bis 6. Schwangerschaftswoche, führte es zu Fehlbildungen der Gliedmaßen, fehlenden Ohrmuscheln und Schäden an den inneren Organen.

Viele Contergan-Geschädigte sind lebenslang auf eine zeit- und personalaufwändige Pflege angewiesen. Die Betreuung dieser Menschen besteht vor allem darin, die degenerativen Veränderungen an den Gelenken und der Wirbelsäule zu behandeln. Außerdem ist häufig eine Schmerzbehandlung vor allem der Schulter, der Ellenbogen oder der Hüfte erforderlich.

Contergan: Wie ging es weiter?

Unter anderem war der Contergan-Skandal Anlass für die Verabschiedung des deutschen Arzneimittelgesetzes, das mittlerweile einen weltweit führenden Standard für die Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik Deutschland garantiert.

Der Umfang der Katastrophe ist unter anderem deshalb so groß, weil es Jahre dauerte, bis öffentlich anerkannt wurde, dass die plötzlich gehäuften Fälle von missgebildeten Neugeborenen mit dem Arzneimittel Contergan in Verbindung standen. Es verging wertvolle Zeit, in der weiterhin ahnungslose schwangere Frauen bei Schlafstörungen und Morgenübelkeit Contergan einnahmen.

Der Kampf um die Anerkennung der arzneimittelbedingten Schäden der Contergan-Kinder dauerte sehr lange. Zwischen 1967 und 1970 fand ein Mammutprozess um Entschädigungszahlungen an die Betroffenen statt, der im Dezember 1970 von der Staatsanwaltschaft mit einem Vergleich eingestellt wurde. Die Verantwortlichen der Herstellerfirma Grünenthal GmbH wurden strafrechtlich nicht belangt.

Im Jahr 1972 wurde von der Bundesrepublik Deutschland und der Grünenthal GmbH die öffentlich-rechtliche Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" (ab 2005 "Conterganstiftung für behinderte Menschen") mit einem Kapital von 100 Millionen DM aus Bundesgeldern und weiteren 100 Millionen DM von der Grünenthal GmbH gegründet. Die Bundesgelder wurden mehrfach aufgestockt, außerdem zahlte die Grünenthal GmbH 2009 weitere 50 Millionen Euro ein. Weltweit werden etwa 2.700 Betroffen von der Stiftung betreut und erhalten von dieser jährliche Sonderzahlungen, eine einmalige Entschädigung sowie eine monatliche Rente, die sich an den gesetzlichen Renten orientiert. Seit 2013 können Betroffene außerdem speziellen Bedarf anmelden.

2012 wurde außerdem die Grünenthalstifung ins Leben gerufen, die unter anderem Projekte fördert, die durch Thalidomid geschädigte Menschen unterstützen sollen.

Thalidomid in Medikamenten

Nachdem Thalidomid aufgrund des Contergan-Skandals jahrelang als Arzneimittel geächtet wurde, wird die Substanz heute zum Beispiel für die Behandlung von Lepra verwendet. In den USA wird es gegen das multiple Myelom sowie in abgewandelter Form gegen bestimmte Formen von Blutkrebs eingesetzt. Als Blutkrebs-Medikament ist es mittlerweile auch in Deutschland zugelassen. Die Weitergabe von Thalidomid und seinen abgewandelten Formen wird von der Herstellerfirma (Celgene in den USA) streng überwacht.

Thalidomid wird auch von anderen Firmen im Ausland weiter hergestellt und vertrieben, jedoch wird hier die Weitergabe nicht überwacht. Infolge dessen werden besonders in Südamerika noch häufig Babys mit entsprechenden Fehlbildungen geboren. In Deutschland sind diese Medikamente nicht zugelassen.