Eine junge Frau sitzt am Schreibtisch und schaut mit leerem Blick in die Ferne.
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Interview: Mental Load erkennen und endlich loslassen

Von: Charlotte Herhold (Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 14.11.2025

Der Arbeitsalltag ist stressig, die Anforderungen des Familienlebens wachsen und ständige Erreichbarkeit, Leistungsdruck sowie fehlende Pausen setzen viele Menschen unter Druck – all das kann zu mentaler Erschöpfung führen. Doch wie erkenne ich die Warnsignale frühzeitig und bewahre mich vor diesen psychischen Belastungen?

Portrait von Moritz Hagendorn.

Ein häufiger Stolperstein ist der Wunsch, jede Aktivität mit einem Ziel zu verbinden.

Moritz Hagedorn ist Psychologe, Organisationsberater sowie Head of Operations & Product im Fürstenberg Institut, das Unternehmen im Bereich Mental Health berät.

Onmeda: Was sind aus Ihrer Erfahrung die häufigsten Ursachen für mentale Erschöpfung?

Moritz Hagedorn: Es gibt nicht die eine äußere Ursache, die zu mentaler Erschöpfung führt. Vielmehr sind es viele belastende Situationen, in denen Pausen fehlen. Ob wir etwas als Stress empfinden, hängt stark davon ab, wie wir es bewerten. Das zeigt sich auch in unseren rund 34.000 jährlichen Beratungen und Coachings im Fürstenberg Institut: 

Manche Menschen fürchten das Scheitern, andere bleiben gelassen oder fühlen sich sogar herausgefordert. Entscheidend ist also nicht die Situation selbst, sondern unsere Gedanken darüber – sie bestimmen, wie wir uns fühlen und handeln. Das ist ermutigend, denn es bedeutet: Wir sind dem Stress nicht ausgeliefert, sondern können aktiv gestalten.

Onmeda: Welche Rolle spielen Arbeitsbelastung, Care-Arbeit und finanzielle Sorgen – gerade in verschiedenen Lebensphasen?

Moritz Hagedorn: Eine sehr große. Besonders in der sogenannten "Rushhour des Lebens", wenn Beruf und Familie gleichzeitig viel Aufmerksamkeit fordern. Dann fließen die meisten Stunden in Job und Kinder – was per se schon eine Herausforderung ist. Die eigentliche Belastung entsteht aber durch den Anspruch, allem gerecht zu werden, und durch Vergleiche mit vermeintlich perfekten Vorbildern wie etwa in den sozialen Medien. 

Finanzielle Sorgen, insbesondere Armut, sind nochmal ein ganz eigener Risikofaktor, weil sie den Alltag stark einschränken. 

Onmeda:  Beobachten Sie bestimmte Trends in den letzten Jahren?

Moritz Hagedorn: Ja, Mental Load nimmt zu. Die Geschwindigkeit, mit der sich unser Leben heute verändert, hat zugenommen. Diese Beschleunigung führt dazu, dass wir mehr denn je gefordert sind, unsere Gedanken so auszurichten, dass wir auch zur Ruhe kommen. Die Tatsache, wie schnell sich die Gesellschaft entwickelt, können wir kaum aufhalten, aber wir können Kompetenzen stärken, um damit gesünder umzugehen.

Onmeda: Woran lässt sich mentale Erschöpfung früh erkennen?

Moritz Hagedorn: Typische Warnsignale sind anhaltendes Grübeln und Gedankenkreisen um ein Thema, ohne zu einer Lösung zu kommen. Man findet keine Ruhe mehr. Auch Schlafstörungen sind ein wichtiges Anzeichen – etwa, wenn man dauerhaft schlecht schläft oder morgens erschöpft aufwacht. Spätestens dann sollte man innehalten und die eigenen Gedanken sortieren – im Gespräch mit Freund*innen, in einer Beratung oder, wenn die Belastung zunimmt, mit professioneller Unterstützung in einer Therapie.

Onmeda: Wie lässt sich der Alltag vorbeugend entlasten?

Moritz Hagedorn: Hilfreich ist es, sich regelmäßig zu fragen: Was ist jetzt wirklich wichtig – und was ist nur ein Anspruch, den ich mir selbst mache oder den ich anderen zuschreibe? Diese Klarheit hilft, Prioritäten zu setzen und sich nicht von Erwartungen überwältigen zu lassen. Ein schönes Bild dazu liefert ein japanisches Sprichwort: "Wenn du es eilig hast, gehe langsam. Wenn du es noch eiliger hast, mache einen Umweg!" 

Das bedeutet: Wenn sich alles gehetzt anfühlt und die To-do-Liste überquillt, ist es oft das Beste, kurz auszusteigen, innezuhalten und etwas ganz anderes zu tun – etwa einen Spaziergang zu machen oder tief durchzuatmen. Das gibt uns Raum, durchzuschnaufen und mit mehr Klarheit und innerer Ruhe die Dinge anzugehen. 

Onmeda: Wenn einem die Prioritäten klar sind, wie gelingt es dann, Grenzen zu setzen?

Moritz Hagedorn:
Grenzen setzen beginnt damit, sich über die eigenen Bedürfnisse klarzuwerden. Viele merken in unserer Beratung, dass in ihnen ganz unterschiedliche Interessen parallel laufen, die oft miteinander im Konflikt stehen.

Ein typisches Beispiel ist die aufwändige Geburtstagstorte fürs Kind. Der Wunsch, alles perfekt zu machen, sorgt schnell für Stress – obwohl einem selbst die einfachere Lösung lieber wäre. Es empfiehlt sich, sich klarzumachen: Welche Erwartungen kommen von mir selbst, welche von außen? Ist das geklärt, fällt das Grenzen-Setzen leichter. Oft genügt ein klarer Satz wie: "Für mich passt dieses Jahr eine kleinere Feier besser."

Onmeda: Welche ersten Schritte helfen, den nicht sichtbaren Druck des Mental Loads zu reduzieren? Haben Sie drei bewährte Tipps?

Moritz Hagedorn: Um den unsichtbaren Druck des Mental Loads zu reduzieren, helfen diese Tipps:

  • alles aufschreiben: Gedanken und Aufgaben aus dem Kopf aufs Papier zu bringen, macht vieles klarer, greifbarer und oft auch weniger belastend.

  • kleine Schritte planen: was hat mir schon mal geholfen? Wer oder was könnte mich jetzt unterstützen? Und: Was ist der kleinste nächste Schritt? Manchmal hilft auch die Frage: "Darf es diesmal auch leicht gehen?"

  • klar kommunizieren: offen mit dem Umfeld sprechen – oder auch erstmal mit sich selbst. Bedürfnisse und Bitten ehrlich formulieren, zum Beispiel: "Ich wünsche mir Unterstützung beim …" oder "Könnten wir gemeinsam eine Lösung finden?"

Und ganz wichtig: Niemand ist perfekt. Das bedeutet auch, dass man sich auch mal mit 80 Prozent zufriedengeben darf. 

Onmeda: Gibt es typische Fehler in der Selbstfürsorge, die Sie häufig beobachten, und wie können diese vermieden werden?

Moritz Hagedorn: Ein häufiger Stolperstein in der Selbstfürsorge ist der Wunsch, jede Aktivität mit einem Ziel zu verbinden – und dabei zu vergessen, einfach im Moment zu sein. Viele praktizieren Achtsamkeit, um sich gezielt zu entspannen, und sind enttäuscht, wenn das nicht sofort klappt. Ähnlich im Alltag: Ein freier Tag fühlt sich schnell "verpasst" an, wenn er nicht produktiv war. Entspannender wird es, Selbstfürsorge ohne Leistungsanspruch zu sehen. So entsteht Raum für echte Erholung und kleine Freuden.

Onmeda: Was raten Sie Menschen, die unsicher sind, ob ihre Symptome medizinische oder psychologische Hilfe erfordern?

Moritz Hagedorn: Ich würde raten, sich erstmal Unterstützung zu holen. Oft ist die hausärztliche Praxis eine gute erste Anlaufstelle. Auch Angebote wie unsere Beratung bzw. ähnliche Employee Assistance Programme können helfen, die eigene Situation einzuschätzen. Wer das Gefühl hat, dass die Belastung stärker wird, kann außerdem ein erstes Kennenlerngespräch bei einer psychologischen Fachkraft vereinbaren. Das geht unkompliziert über die Terminservicestelle unter der Nummer 116117.