Alexithymie: Symptome und Ursachen von Gefühlsblindheit
Glück, Trauer, Wut – für viele Menschen sind diese Gefühlsregungen alltäglich und leicht zu benennen. Doch etwa jede zehnte Person hat Schwierigkeiten, eigene Emotionen zu erkennen und auszudrücken – ein Phänomen, das als Alexithymie oder Gefühlsblindheit bezeichnet wird. Erfahren Sie, wie sich Alexithymie äußert, welche Ursachen zugrunde liegen und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt.
FAQ: Häufige Fragen und Antworten zu Alexithymie
Betroffene sprechen selten über Gefühle, zeigen wenig Mimik und verhalten sich in emotionalen Situationen eher sachlich und zurückhaltend. Auf ihre Mitmenschen wirken sie häufig unnahbar.
Ja, Betroffene können durchaus lieben. Allerdings erleben und zeigen sie ihre Gefühle oft weniger emotional oder verbal, sondern eher durch verlässliches Verhalten und Fürsorge im Alltag.
Standardisierte Fragebögen wie die Toronto Alexithymia Scale (TAS-20) sind hilfreich für eine erste Selbsteinschätzung, ersetzen jedoch keine professionelle Diagnose. Bei Verdacht auf Gefühlsblindheit sollte daher eine fachärztliche Praxis aufgesucht werden.
Was ist Alexithymie?
Menschen mit Alexithymie haben Schwierigkeiten, eigene Gefühle zu erkennen, sprachlich auszudrücken und mit anderen Personen in einen emotionalen Austausch zu treten. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet sinngemäß so viel wie "keine Worte für Gefühle". Fachleute sprechen auch von Gefühlsblindheit.
Die Wahrnehmung innerer Vorgänge ist bei vielen Betroffenen stark eingeschränkt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie kein Leid empfinden. Ihre Emotionen werden zwar nicht als Gefühle erkannt, zeigen sich jedoch oft körperlich – zum Beispiel als Unruhe oder Anspannung.
Alexithymie ist im DSM-5, dem Diagnosekatalog für psychische Störungen, nicht als Krankheit aufgeführt. Vielmehr wird sie als Persönlichkeitsmerkmal verstanden. Dennoch kann sie das Leben der Betroffenen erheblich einschränken – und auch für Angehörige belastend sein. Gerade in engen Beziehungen können fehlende emotionale Reaktionen zu Unsicherheit und Konflikten führen.
Wie viele Menschen sind betroffen?
Schätzungen zufolge weisen rund 10 Prozent der Bevölkerung alexithyme Persönlichkeitsmerkmale auf. Männer sind etwas öfter betroffen.
Wie äußert sich Alexithymie?
Alexithymie kann in leichten bis schweren Ausprägungen auftreten. Betroffenen fehlt der Zugang zu ihren eigenen Gefühlen – sie spüren zwar, dass "etwas nicht stimmt", können dieses Erleben aber weder benennen noch einordnen. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer gestörten Affektregulation: der Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, auszudrücken und in emotional herausfordernden Situationen zu steuern.
Typische Merkmale der emotionalen Blindheit sind:
emotionale Sprachlosigkeit: Betroffene haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Statt "Ich bin aufgeregt" treffen sie eher sachliche Aussagen wie "Mein Herz schlägt schnell", ohne diesen Zustand näher zu definieren.
Verwechslung von Gefühlen und körperlichen Zuständen: Emotionen werden körperlich erlebt. So kann sich Wut etwa in Form von Magenschmerzen ausdrücken, ohne dass Betroffene den Zusammenhang erkennen.
eingeschränktes Vorstellungsvermögen: Menschen mit alexithymen Zügen haben kaum oder keine Fantasie, Tagträume oder bildhafte Vorstellungen. Dadurch wirken sie auf Außenstehende oft besonders rational und pragmatisch.
soziale Schwierigkeiten: Viele Betroffene haben ein mangelndes Einfühlungsvermögen, was zu Problemen im zwischenmenschlichen Bereich führen kann. Auf ihre Mitmenschen wirken sie oft kühl oder gleichgültig – meist ohne sich dessen bewusst zu sein.
sachlich-rationales Denken: Alexithymie geht oft mit einer sehr sachlichen und faktenorientieren Denkweise einher. Emotionen anderer Menschen können bei Betroffenen für Verwirrung sorgen.
All das führt dazu, dass viele Betroffene in emotional schwierigen Situationen überfordert sind. Ohne passende Strategien geraten sie innerlich unter Druck – und fühlen sich oft unverstanden, auch von engen Bezugspersonen.
Gefühlsblindheit kann daher einen hohen Leidensdruck auslösen. Betroffene berichten zum Beispiel von:
- innerer Leere und emotionaler Taubheit
- einer gestörten Selbstbeziehung (durch den mangelnden Zugang zur eigenen Gefühlswelt)
- Konflikten in sozialen Beziehungen
- emotionalen Spannungszuständen
Wie beeinflusst Alexithymie die Sexualität?
Immer mehr Studien zeigen, dass Alexithymie das Erleben und Ausdrücken von Sexualität erheblich beeinträchtigen kann. Denn Sexualität ist nicht nur ein körperlicher Akt, sondern stark durch Emotionen, Kommunikation und Selbstwahrnehmung geprägt. Menschen mit Alexithymie haben genau in diesen Bereichen Schwierigkeiten:
- Sie spüren eigene Bedürfnisse oft nur diffus,
- können sexuelle Wünsche oder Grenzen schwer benennen und
- kaum emotionale Nähe zulassen oder zeigen.
Diese Faktoren können sich negativ auf die sexuelle Zufriedenheit und das Vertrauen in intimen Beziehungen auswirken.
Mögliche Begleiterkrankungen
Alexithymie tritt selten isoliert auf. Sie geht häufig mit anderen psychischen oder psychosomatischen Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) einher. Fachleute vermuten, dass diese Störungsbilder sowohl Ursache als auch Folge des Phänomens sein können und wechselseitig verstärkend wirken.
Folgende Begleiterkrankungen gehen häufig mit Alexithymie einher:
- Depressionen
- Suchterkrankungen
- chronischer Stress
- Angststörungen
- Essstörungen, vor allem Magersucht (Anorexie), Bulimie und Binge Eating
- posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Autismus-Spektrum-Störungen
- ADHS (seltener)
Was löst Alexithymie aus?
Die Ursachen von Alexithymie sind vielfältig, meist handelt es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Fachleute unterscheiden dabei zwischen primärer (angeborener) und sekundärer (erworbener) Alexithymie.
Primäre Alexithymie
Diese Form ist meist angeboren oder sehr früh erworben und zeigt sich oft bereits in der Kindheit. Mögliche Ursachen:
neurobiologische Faktoren: Einige Betroffene weisen Veränderungen in bestimmten Gehirnarealen auf. Das betrifft insbesondere das limbische System, das für die emotionale Verarbeitung zuständig ist.
genetische Veranlagung: Studien deuten auf eine gewisse Erblichkeit hin – Alexithymie kommt familiär gehäuft vor.
entwicklungsneurologische Störungen: Alexithymie tritt zum Beispiel häufig gemeinsam mit Autismus-Spektrum-Störungen auf. Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen – bei sich selbst und bei anderen –, was auch bei Alexithymie typisch ist.
Sekundäre Alexithymie
Diese Form entsteht meist im Laufe des Lebens – häufig infolge belastender Situationen, psychischer Krankheiten oder gestörter emotionaler Entwicklung. Fachleute vermuten, dass diese Variante häufiger vorkommt. Zu den häufigsten Auslösern zählen:
Kindheitstraumata: Vernachlässigung, Missbrauch oder emotionale Kälte können dazu führen, dass Kinder keinen Zugang zu ihren Gefühlen entwickeln. Denn diese werden als bedrohlich erlebt und unbewusst abgespalten (Dissoziation).
psychische Erkrankungen: Störungsbilder wie Depressionen oder Angststörungen können zu Defiziten in der Gefühlswahrnehmung führen.
Sozialisierung und Erziehung: Wächst ein Kind in einem Umfeld auf, in dem emotionale Zurückhaltung gefördert beziehungsweise das Ausdrücken von Gefühlen bestraft wird, kann das langfristig alexithyme Tendenzen begünstigen.
Wie wird Alexithymie therapiert?
Die Behandlung der Alexithymie rückt zunehmend in den Fokus psychotherapeutischer Forschung. Denn zum einen kann sie bei Betroffenen einen hohen Leidensdruck auslösen. Zum anderen kann sich Gefühlsblindheit auch negativ auf andere psychische Störungen auswirken und insbesondere die therapeutische Arbeit erschweren. Denn Emotionen gelten in den meisten Psychotherapien als zentrale Voraussetzung, um Probleme zu erkennen, zu besprechen und zu lösen.
Inzwischen gibt es verschiedene Ansätze, die gezielt dabei helfen sollen, den Zugang zu Emotionen zu verbessern. Welche Methode am besten passt, hängt davon ab, wie stark die Alexithymie ausgeprägt ist und ob noch weitere psychische Störungsbilder vorliegen.
Von Bedeutung sind vor allem die folgenden Therapieverfahren:
kognitive Verhaltenstherapie (CBT): Dieses Verfahren kommt am häufigsten zum Einsatz – besonders dann, wenn zusätzlich Depressionen, Ängste oder andere psychische Erkrankungen vorliegen. Sie hilft dabei, Gedanken, Emotionen und körperliche Reaktionen besser zu erkennen und miteinander zu verknüpfen. Ein zentrales Element ist die kognitive Neubewertung: Dabei lernen Betroffene, ihre inneren Reaktionen anders zu interpretieren und emotional belastende Gedanken durch hilfreichere Sichtweisen zu ersetzen.
mentalisierungsbasierte Therapie (MBT): Diese Behandlungsmethode wurde ursprünglich für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen entwickelt, eignet sich aber auch für Patient*innen mit Alexithymie. Im Zentrum steht die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle besser zu verstehen – auch, um die zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern. Besonders wirkungsvoll ist dieser Ansatz in Gruppentherapien.
emotionsfokussierte Therapie (EFT): Bei diesem Konzept geht es darum, den Kontakt zu unterdrückten oder blockierten Gefühlen wiederherzustellen. Viele Menschen mit Alexithymie spüren zwar Spannungen oder Unwohlsein, können aber nicht genau sagen, was sie emotional bewegt. Mit Hilfe von Übungen – z. B. Dialogen – lernen sie, ihre Gefühle genauer zu unterscheiden und zuzulassen.
Emotionswahrnehmungstraining: Bei diesem Training kommen zum Beispiel Emotionstagebücher, Bildkarten oder Körpersensibilisierungsübungen zum Einsatz. Ziel ist es, ein besseres Gespür für innere Zustände zu entwickeln.
achtsamkeitsbasierte Verfahren: Methoden wie MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) und MBCT (Mindful-Based Cognitive Therapy) sind gut untersucht und können helfen, das emotionale Bewusstsein langfristig zu verbessern.
Medikamentöse Unterstützung
Eine medikamentöse Behandlung richtet sich nicht gegen die Alexithymie selbst, sondern kommt nur zum Einsatz, wenn zusätzlich andere Krankheitsbilder wie Depressionen oder Angststörungen vorliegen. Antidepressiva wie SSRIs können dabei helfen, das allgemeine Befinden zu stabilisieren – was wiederum die Voraussetzung dafür schafft, emotional zugänglicher zu werden.
Wie sind Verlauf und Prognose bei Alexithymie?
Verlauf und Prognose hängen von verschiedenen Faktoren ab – ausschlaggebend ist etwa, wie frühzeitig die Gefühlsblindheit erkannt und behandelt wird, ob zusätzlich andere Störungen vorliegen und um welche Form der Alexithymie es sich handelt.
Bei Menschen mit einer primären (angeborenen) Form ist der Verlauf meist langwierig. Defizite im Umgang mit Emotionen bleiben oft über Jahre bestehen – unabhängig von äußeren Einflüssen. Wenn sie gezielt therapiert werden, können Betroffene dennoch einen besseren Zugang zu ihrer Gefühlswelt entwickeln.
Deutlich bessere Chancen auf Veränderung gibt es bei der sekundären (erworbenen) Alexithymie. In vielen Fällen bessert sich die Alexithymie, wenn die zugrunde liegende Belastung behandelt wird – zum Beispiel eine Depression.
Auch der Aufbau einer stabilen therapeutischen Beziehung kann wesentlich zum Behandlungserfolg beitragen.