Symbolbild Nahtoderfahrung: Bild von einem Tunnel mit Licht am Ende.
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Nahtoderfahrung: Phänomen zwischen Mythos und Wissenschaft

Von: Jessica Rothberg (Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 17.06.2025

Innerer Frieden, Wärme und ein helles Licht: Nahtoderfahrungen – oder zumindest die Berichte darüber – gibt es wohl seit Menschengedenken. Lange Zeit fiel dieses Phänomen ausschließlich in den Bereich der Religion und Esoterik. Doch seit einigen Jahren befasst sich auch die Wissenschaft intensiver damit. Was steckt hinter Nahtoderfahrungen?

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

FAQ: Häufige Fragen und Antworten rund um Nahtoderfahrungen

Dabei handelt es sich um ein außergewöhnliches Bewusstseinserlebnis. Betroffene beschreiben ein Gefühl von Frieden und Wärme und berichten von außerkörperlichen Erfahrungen, Traumwelten, einem Blick ins Jenseits oder Rückblicke auf das eigene Leben.

Dazu kann es vor allem während lebensbedrohlicher Zustände wie bei einem Herzstillstand kommen.

Einige Betroffene fühlen sich geerdeter, friedlicher, haben keine Angst vor dem Sterben mehr und wenden sich mitunter einem weniger materialistischen, spirituellen Lebensstil zu. Das Bewusstsein für das eigene Leben ist oft gestärkt. Andere berichten auch von negativen Nahtoderlebnissen, die Verwirrung, Angstzustände oder Depressionen verursachen können.

Was ist eine Nahtoderfahrung?

Unter Nahtoderfahrungen (kurz NDE für engl. near death experience) versteht man im Allgemeinen besondere Erlebnisse, die Menschen in tatsächlicher oder subjektiv empfundener Todesnähe haben können. Dies ist besonders häufig bei einem Herzstillstand, aber beispielsweise auch bei

So gibt es auch einige Berichte über Nahtoderlebnisse, die sozusagen "unter ärztlicher Aufsicht" stattfanden – etwa von Patient*innen, die nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wiederbelebt wurden. Doch auch während einer Ohnmacht (Synkope) oder in psychischen Krisensituationen sind Nahtoderfahrungen möglich.

Nahtoderfahrungen und Berichte darüber gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen. In den vergangenen Jahrzehnten hat auch die Wissenschaft damit begonnen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, allen voran Fachleute der Psychiatrie, Kardiologie und Neurologie.

Eine der ersten Publikationen beziehungsweise Studien der Neuzeit zum Thema Nahtoderfahrungen stammt von einem schweizerischen Professor für Geologie: Albert Heim schrieb 1892 im Jahrbuch des Schweizer Alpenvereins über 30 verunglückte Bergsteiger, die Nahtoderfahrungen gemacht hatten – unter anderem er selbst, bei einem Absturz vom Berg Säntis in der Ostschweiz.

Häufigkeit

Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Menschen bereits Nahtoderfahrungen gemacht haben. Fachleute schätzen jedoch, dass etwa 10 bis 15 von 100 Personen mit Herz-Kreislauf-Stillstand, die erfolgreich wiederbelebt werden, ein solches Erlebnis hatten.

In den vergangenen Jahren ist zudem in der Notfall- und Rettungsmedizin die Zahl der berichteten Nahtoderlebnisse gestiegen. Dies liegt unter anderem an verbesserten Wiederbelebungsmaßnahmen.

Typische Elemente: Was passiert bei Nahtoderfahrungen?

Nahtoderfahrungen unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Dennoch gibt es sechs Elemente, die typisch für ein solches Erlebnis sind.

1. Gefühl von Frieden, Ausgeglichenheit und körperlichem Wohlbefinden

Dieses Gefühl erleben etwa zwei Drittel aller Menschen mit Nahtoderfahrung. Es setzt meist mit Beginn der NDE ein und bleibt bis zum Ende bestehen.

2. Körperaustrittsphänome

Beim Körperaustrittsphänom (auch außerkörperliche Erfahrung genannt, kurz OBE für engl. out of body experience) handelt es sich um das Gefühl, von seinem physischen Körper getrennt zu sein. Betroffene beschreiben, dass sie sich selbst aus einigen Metern Entfernung sehen, meist von oben. Sie nehmen das Geschehen um sich herum wahr – zum Beispiel das Bemühen der Fachleute, sie am Leben zu halten – und können dies hinterher auch wiedergeben. 

Die Umgebung erscheint während einer außerkörperlichen Erfahrung hell erleuchtet. Das Hören soll klar und deutlich sein, das Denken schärfer und distanzierter. Fachleuten zufolge machen weniger als die Hälfte der Menschen mit einem Nahtoderlebnis eine solche außerkörperliche Erfahrung.

3. Tunnelerlebnis

Das Tunnelerlebnis beschreibt das Gefühl, sich durch einen – meist zylindrischen, horizontal verlaufenden, dunklen und leeren – Tunnel zu bewegen. Die Bewegung soll dabei eher einem Gleiten als einem Fallen gleichen. Etwa ein Drittel der Betroffenen hat ein Tunnelerlebnis.
Am Ende des Tunnels beschreiben viele Betroffene ein helles Licht. Wenn sie dieses erreichen, geht ihre Nahtoderfahrung in vielen Fällen zum nächsten Element über, den traumhaften Landschaften. 

4. Idealisierte, traumhafte Landschaften

Diese Umgebung befindet sich vielen Beschreibungen zufolge hinter dem dunklen Tunnel und ist von warmem, hellem und angenehmem Licht durchflutet. Wie genau diese Landschaften aussehen, wird von Person zu Person unterschiedlich wahrgenommen. Allerdings werden sie häufig als "Himmel" oder "Paradies" beschrieben. 

Einige Betroffene sprechen hinterher von einer Grenze, die sie nicht überschreiten dürfen – sobald sie diese erreichen, stellt dies das Ende ihrer Nahtoderfahrung und die Rückkehr ins reale Leben dar. Etwa ein Drittel der Betroffenen berichtet von einer solchen Traumlandschaft.

5. Zusammentreffen mit hellem Licht

In den oben beschriebenen Traumlandschaften treffen viele Betroffene während ihrer Nahtoderfahrungen auf "lichthafte Wesen". Diese können verstorbene Freunde, Verwandte oder Unbekannte repräsentieren. Häufig kommunizieren die Betroffenen mit diesen Wesen und bezeichnen den Kontakt mit ihnen als freundlich, hilfreich und zugewandt.

6. Lebensrückblick

Der Lebensrückblick enthält wichtige Erlebnisse aus dem zurückliegenden Leben. In Einzelfällen kann er Betroffenen während einer Nahtoderfahrung auch einen Ausblick auf kommende Ereignisse geben. All dies wird meist als klar und deutlich wahrgenommen. Rund jede zehnte betroffene Person erlebt einen Lebensrückblick.

Während die ersten fünf Elemente einer Nahtoderfahrung meist in der oben angegebenen Reihenfolge auftreten, ist der Zeitpunkt des Lebensrückblicks recht variabel: Er kann sich in einem Stück, in mehreren Sequenzen oder auch parallel zu dem übrigen Geschehen abspielen.

Negative Nahtoderfahrung möglich

Nahtoderfahrungen sind meist angenehme, positive Erlebnisse. Dennoch gibt es auch Berichte über negative Nahtoderfahrungen: Einige Betroffene verspüren während einer NDE nicht das typische Gefühl von Frieden, Ruhe und Ausgeglichenheit. Stattdessen finden sie sich in bedrohlicher Dunkelheit wieder, in einer trostlosen, dämonisch wirkenden Umgebung. Bisher ist allerdings noch nicht bekannt, von welchen Faktoren es abhängt, ob eine Nahtoderfahrung positiv oder negativ verläuft.

Nahtoderfahrung: Was sagt die Wissenschaft?

Fachleute gehen mittlerweile davon aus, dass es sich bei Nahtoderfahrungen um ein eigenständiges Phänomen handelt – auch, wenn noch nicht eindeutig geklärt ist, wie es zustande kommt. Mitunter werden sie nur als intensive Träume abgetan. Doch gegen diese Vermutung spricht beispielsweise, dass viele Berichte unabhängig voneinander immer wieder dieselben sechs typischen Elemente enthalten – und das weltweit.

Auch psychische Störungen wie Schizophrenie und halluzinogene Drogen fallen aus Auslöser der Nahtoderlebnisse weg: Zwar können diese teilweise gleiche Symptome wie etwa das Körperaustrittsphänomen auslösen – doch Menschen, die bisher von Nahtoderfahrungen berichtet haben, standen in der überwiegenden Mehrheit weder unter Drogeneinfluss noch waren sie psychisch auffällig.

Nahtod: Wissenschaftliche Erklärungsansätze

Woher also stammen die Erlebnisse, die Menschen in bedrohlichen Situationen haben können und die unter dem Begriff Nahtoderfahrungen zusammengefasst werden? Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze.

Organische Ansätze

Bei den organischen Ansätzen geht es insbesondere um die Frage, was bei einem klinischen Tod im Körper passiert – also in der Phase, in der zwar die Vitalfunktionen wie Atmung und Herz-Kreislauf-Funktion versagen, aber noch reaktiviert werden können.

Beim klinischen Tod besteht innerhalb der ersten zehn Minuten nach Versagen von Atmung und Herzkreislauf die Möglichkeit, die Vitalfunktionen zu reaktivieren, etwa mittels Herzmassage, künstlicher Beatmung oder Elektrodefibrillation.

In dieser Zeitspanne kommt es auch zu Auffälligkeiten in der elektro-chemischen Signalübertragung im Nervensystem. Diese sind möglicherweise ein Auslöser für Phänomene wie die außerkörperliche Erfahrung. Auch ein Sauerstoffmangel (Hypoxie) im Gehirn und ein erhöhter Kohlenstoffdioxidgehalt im Blut (Hyperkapnie) könnten zu einer Nahtoderfahrung beitragen.

Psychologische Ansätze

Die psychologischen Ansätze zur Entstehung von Nahtoderfahrungen gehen davon aus, dass diese Erlebnisse das Ziel haben, die Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen zu erhöhen. So werden beispielsweise durch das Gefühl des inneren Friedens die Energiereserven des Körpers geschont. Dies könnte – im Gegensatz zu einer kräftezehrenden Panik – einen evolutionären Vorteil darstellen. 

Zudem könnte das Körperaustrittsphänomen eine Art Selbstschutz sein und dazu dienen, den eigenen Tod zu relativieren: Betroffene lösen sich vom physisch bedrohten Körper und leugnen damit, selbst von ihm abhängig und verwundbar zu sein.

Spirituelle Ansätze

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Für viele Menschen gelten Nahtoderlebnisse als ein Beweis dafür. Sie sehen in den Erlebnissen eine Art Besuch im Jenseits, der dann wieder beendet wird, um in das richtige Leben zurückzukehren. 

Zur Unterstützung dieser Sichtweise wird oft angeführt, dass Nahtoderfahrungen – vor allem bei gläubigen Menschen – häufig religiöse Inhalte oder Symbole beinhalten. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich die Frage, ob Nahtoderfahrungen Beweise für ein Leben nach dem Tod sind, bisher allerdings nicht beantworten.

Weder organische noch psychologische oder spirituelle Ansätze scheinen das Phänomen der Nahtoderfahrungen vollumfänglich zu erklären. Daher gibt es auch Modelle, die alle drei Ansätze vereinen. Nach diesen sollen Nahtoderfahrungen den Sinn haben, Betroffenen in extremen Stresssituationen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.

Welche Folgen können Nahtoderlebnisse haben?

Unabhängig von der Ursache von Nahtoderlebnissen steht noch eine weitere Frage im Raum: Welche Folgen haben sie? Fachleute gehen davon aus, dass sich ein Nahtod in erheblichem Maße auf das Leben der Betroffenen und auch auf ihr soziales Umfeld auswirken kann. Zum einen können nach Nahtoderfahrungen

  • Albträume,
  • Depressionen und
  • psychotische Störungen auftreten.

Zum anderen können Nahtoderlebnisse auch eine Änderung von Einstellungen und Wertvorstellungen sowie daraus resultierend des Verhaltens hervorrufen. So haben Betroffene nach einer Nahtoderfahrung häufig weniger Angst vor dem Tod und gleichzeitig das Bedürfnis, ihr Leben sinnvoller zu gestalten. Oft wenden sich Betroffene von materialistischen Werten ab und widmen sich intensiver der Sinnfrage des Lebens. Menschliche Beziehungen und karitative Tätigkeiten wie Ehrenämter stehen meist mehr im Fokus. Auch die Religiosität nimmt häufig zu.

Solche Einstellungs- und Verhaltensveränderungen nach einer Nahtoderfahrung können zu Problemen im persönlichen und beruflichen Umfeld führen. Mitunter stoßen Betroffene vor allem bei Mitmenschen auf Unverständnis. 

Um die negativen Folgen von Nahtoderfahrungen abzufedern, kann es sinnvoll sein, Selbsthilfegruppen aufzusuchen oder eine Psychotherapie zu machen – eventuell auch zusammen mit Angehörigen.