Jemand isst Möhren und Äpfel aus einer Brotdose.
© GettyImages/Ekaterina Goncharova

Orthorexie: Krankhaft gesundes Essverhalten

Von: Brit Weirich (Medizinautorin, M.A. Mehrsprachige Kommunikation)
Letzte Aktualisierung: 17.07.2022

Eine gesunde Ernährung beugt Krankheiten vor, schützt das Immunsystem und versorgt den Körper mit wichtigen Nährstoffen. Einige Menschen entwickeln jedoch ein zwanghaft gesundes Essverhalten, das ihren gesamten Alltag bestimmt und einen hohen Leidensdruck auslösen kann. Diese Störung heißt Orthorexie. Welche Symptome typisch sind und welche Folgen die Essstörung haben kann, lesen Sie hier.

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

Was ist Orthorexie?

Orthorexie (Orthorexia nervosa) bezeichnet das zwanghafte Bedürfnis, gesund bzw. richtig zu essen. Der Begriff stammt aus dem Griechischen, wobei orthos für richtig, orexis für Begierde/Appetit und nervosa für zwanghaft/neurotisch steht. Die Bezeichnung ist an die Magersucht (Anorexia nervosa) angelehnt.

Tatsächlich finden sich einige Symptome der Orthorexie nämlich auch in der Magersucht sowie in anderen Ess-, Zwangs- oder somatischen Störungen wieder. Aus diesem Grund sind einige Mediziner*innen der Meinung, dass es sich bei der Orthorexie nicht um eine eigenständige, sondern um eine komorbide Störung handelt. Eine komorbide Störung ist eine psychische Erkrankung, die neben einer anderen, in der Regel schon länger vorhandenen psychischen Störung auftritt.

Forschung noch am Anfang

Generell wurde bisher nur wenig zu Orthorexie geforscht. Die Störung ist noch nicht eindeutig klassifiziert. Noch immer herrscht Uneinigkeit darüber, in welchen Bereich sie eingeordnet werden soll. So wird sie neben den Ess- und Zwangsstörungen mitunter auch der Hypochondrie, dem Perfektionismus und den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet.

Auch unklar ist, ob Orthorexie in allen Kulturkreisen auftritt oder ob es sich dabei bislang um ein Phänomen handelt, das nur in westlichen, wohlhabenderen Ländern auftritt. Der Begriff Orthorexie wurde 1997 von dem US-amerikanischen Arzt Steven Bratman geprägt, der selbst unter einem zwanghaften Essverhalten litt und daraufhin zu forschen begann.

Wer ist betroffen?

Schätzungen zufolge sind etwa drei bis fünf Prozent der deutschen Bevölkerung betroffen. Frauen zeigen häufiger ein orthorektisches Verhalten als Männer. Besonders oft betroffen sind zudem Leistungssportler*innen und Menschen, die sich beruflich intensiv mit Ernährung beschäftigen. Darüber hinaus zeigen Forschungen, dass Personen, die allgemein zu Perfektionismus neigen, empfänglich für Orthorexia nervosa sind. Auch Kinder, deren Eltern ein entsprechendes Essverhalten vorleben, sind häufiger betroffen.

Orthorexie: Symptome

Der US-amerikanische Arzt Steven Bratman stellte vier Kriterien auf, anhand derer er eine orthorektische Störung definiert:

1. Ständiges Kreisen der Gedanken um das "richtige" Essen

Betroffene sind permanent auf ihre Ernährung fixiert. Die Beschäftigung mit dem Thema Essen stellt ihren primären Lebensinhalt dar, sodass sie ihren gesamten Alltag danach ausrichten. Andere Lebensbereiche verlieren an Bedeutung. Im Extremfall können sich Orthorektiker*innen kaum noch auf ihren Beruf oder andere Tätigkeiten konzentrieren. Das kann unter anderem zu sozialer Isolation und einem hohen Leidensdruck führen. Betroffene beschäftigen sich zum Beispiel mit folgenden Fragen:

  • Was esse ich als nächstes?
  • Wann nehme ich meine nächste Mahlzeit ein?
  • Wie ist welches Lebensmittel zusammengesetzt?
  • Wie kann ich meine letzte Mahlzeit abtrainieren?

2. Schuldgefühle, falls vom Ernährungsplan abgewichen wird

Ernährt sich die*der Betroffene nicht nach den selbst aufgestellten, meist sehr strengen Ernährungsregeln, meldet sich das schlechte Gewissen. Sie*er macht sich Vorwürfe und versucht unter Umständen, das Gegessene zu kompensieren. Hierzu bedienen sich Betroffene zum Teil auch bulimischen Verhaltensweisen wie

  • selbst herbeigeführtem Erbrechen,
  • exzessiven Sporteinheiten,
  • Fasten,
  • der Einnahme von Entwässerungs- oder Abführmitteln.

Zu den Schuldgefühlen gesellt sich oft auch Scham. So versuchen einige Betroffene zum Beispiel, ihr "Versagen" zu verstecken: Ungesunde Lebensmittel werden dann nur heimlich gegessen, sodass es niemand mitbekommt. Wenn sie im Beisein von anderen "schlecht" essen, stellt sich häufig das Gefühl des Ertapptseins ein. Denn bei vielen Betroffenen besteht das – teils unbewusste – Bedürfnis, dass ihr Umfeld sie als besonders gesunde Esser wahrnimmt.

3. Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen

Personen mit orthorektischen Zügen fühlen sich häufig überlegen, wenn es um ihre eigene Ernährungsweise geht. Sich vermeintlich gesünder zu ernähren als andere und das Umfeld daran teilhaben zu lassen, scheint Menschen mit Orthorexia nervosa ein Gefühl der Aufwertung zu geben. Orthorektiker*innen scheinen sich mitunter über ihr Essverhalten und ihre Rolle als Ernährungsfanatiker*innen zu definieren. Ihr Selbstwert ist eng mit ihrer disziplinierten Ernährung verknüpft.

4. Missionierungseifer, um andere von dem eigenen Essverhalten zu überzeugen

Betroffene beschäftigen sich akribisch mit Ernährungsthemen und häufen eine Menge theoretisches Wissen an. Dieses möchten sie gerne weitergeben. Häufig sind sich Orthorektiker*innen gar nicht bewusst, dass sie ein zwanghaftes Verhalten an den Tag legen, das ihnen langfristig schaden kann. Mit dem Ehrgeiz, ihr Wissen an andere weiterzugeben, geht häufig auch eine gewisse Übergriffigkeit einher.

Die extreme Form der gesunden Ernährung geht mit zahlreichen Symptomen einher, die auch aus anderen Ess- und Zwangsstörungen bekannt sind.

Ernährungsumstellung als Einstieg

Der Weg in die Orthorexie beginnt häufig mit einer Ernährungsumstellung oder einer Diät. Beides kann wie eine "Einstiegsdroge" wirken. Die*der Betroffene setzt sich dadurch intensiver mit Ernährung auseinander und entwickelt bestimmte Denkmuster. Zu Beginn steht meist noch der Wunsch nach einem besseren Gesundheitszustand im Fokus. In Kombination mit persönlichen Problemen, einer grundsätzlichen Neigung zu Extremen und dem gesellschaftlich propagierten Bild eines "normschönen Körpers" kann das ursprünglich gesunde Essverhalten dann schnell in eine zwanghafte Störung umschlagen.

Verbindung zu anderen Essstörungen

Orthorexie geht häufig mit Symptomen anderer Ess- oder Zwangsstörungen einher. Das können zum Beispiel folgende sein:

Ein Beispiel: Einige Orthorektiker*innen fokussieren sich sehr auf ihr Gewicht und streben an, möglichst schlank zu sein. Typisch ist dann die ständige Kontrolle des eigenen Körpergewichts und des Essverhaltens. Das kann ein Gefühl von Macht erzeugen, die den Betroffenen in anderen Lebensbereichen zu fehlen scheint. Häufig geht Orthorexie auch mit einer Gewichtsabnahme einher. Dazu kommt es, wenn Orthorektiker*innen über einen längeren Zeitraum unterhalb ihres Kalorienbedarfs essen, kalorienreiche Lebensmittel meiden, erbrechen oder exzessiv Sport treiben, um das Gegessene zu kompensieren.

Symptom von Orthorexie: Extreme

Eine gesunde Ernährung ist vor allem eine ausgewogene Ernährung. Dieser Aspekt kommt bei Orthorektiker*innen häufig zu kurz: Sie ernähren sich oft einseitig, schließen bestimmte Lebensmittelgruppen komplett aus und fallen in ein extremes Schwarz-Weiß-Denken.

Fokus auf Leistung: Typisch bei Orthorexie

Ein orthorektisches Ernährungsverhalten ist eng verbunden mit dem Selbstwertgefühl der Betroffenen. Dieses steigern sie, indem sie eine Leistung erbringen – in diesem Fall ein gesundes Essverhalten. Häufig zeigen Orthorektiker*innen aber auch über die Ernährung hinaus stark leistungsorientierte Tendenzen, etwa im Beruf oder im Sport. Betroffene sind in der Regel sehr streng mit sich selbst. Die Angst, nicht gut genug zu sein, scheint wie ein Motor zu funktionieren.

Restriktion und Regeln bei Orthorexie

Ein typisches Anzeichen für Orthorexie ist ein restriktives Essverhalten. Betroffene ernähren sich nach bestimmte Essensvorschriften, wobei der Verzicht auf gewisse Lebensmittel oder ganze Lebensmittelgruppen im Vordergrund steht. Die selbst auferlegten Ernährungsregeln werden mit der Zeit oft immer strenger. Orthorektiker*innen ernähren sich zum Beispiel häufig

  • kohlenhydratarm (Low Carb),
  • vegetarisch, vegan oder roh-vegan (ausschließlich Rohkost)
  • “clean” (Clean Eating, verarbeitete Lebensmittel stehen nicht auf dem Speiseplan).

Auch Intervallfasten ist eine Ernährungsform, der sich Orthorektiker*innen häufig bedienen.

Essen als Mittel zum Zweck

Wer sich zwanghaft gesund ernährt, isst oft nicht nach Appetit, sondern betrachtet Essen als Mittel zum Zweck. Lust und Essgenuss stehen also nicht im Vordergrund. Wichtiger scheint der ernährungsphysiologische Wert der Lebensmittel zu sein. Betroffene essen also in der Regel nicht intuitiv (nach Gefühl), sondern danach, was vermeintlich am gesündesten ist.

Ursachen von Orthorexie

Bislang ist noch unklar, welche Ursachen der Essstörung zugrunde liegen. Fachleute gehen aber davon aus, dass ein Auslöser ein geringes Selbstwertgefühl sein könnte. Da noch nicht geklärt ist, ob Orthorexie als eigenständiges Krankheitsbild ist oder vor allem als komorbide Störung (neben Ess- und Zwangsstörungen) auftritt, suchen Forschende die Ursachen auch in jenen parallel vorhandenen Störungen.

Auch besteht laut Psycholog*innen häufig das starke Bedürfnis nach Kontrolle. Zudem scheint das Phänomen der zwanghaft gesunden Ernährung eng mit einem generellen Bestreben eines gesunden Lebensstils verknüpft zu sein. So wird Krankheit mitunter als Schuld oder persönliche Fehlleistung erlebt.

Fördert die Lebensmittelindustrie Orthorexie?

"Weniger Kalorien", "fettreduziert", "proteinreich": Lebensmittelhersteller werben mit Produkten, die durch Zusätze oder das Weglassen von Fett oder Zucker ganz besonders gesund sein sollen. Ob im Internet oder direkt im Supermarkt: Es fällt schwer, sich den Gesundheitsversprechen zu entziehen. 

Fakt ist: So genanntes Functional Food, also Lebensmittel mit zugesetzten Vitaminen, Pflanzenstoffen und Fettsäuren, ist in der Regel überteuert und meist wirkungslos. Zumindest fehlt es bislang an wissenschaftlichen Beweisen. Denn es gibt kaum unabhängige, aussagekräftige Studien zu den Produkten. Auch die Langzeitwirkung von Functional Food ist nicht bekannt. Gewisse Zusätze sind für normal gesunde Menschen auch gar nicht nötig: Viele Vitamine bildet der Körper zum Beispiel selbst.

Wie wird Orthorexie diagnostiziert?

Steven Bratman entwickelte einen Selbsttest, der dabei helfen soll, Orthorexie zu erkennen. Wenn mehr als vier Fragen mit "Ja" beantwortet werden, liegt laut Bratman eine Tendenz zu orthorektischem Verhalten vor.

Orthorexie-Selbsttest

  1. Denken Sie mehr als drei Stunden täglich über Ihre Ernährung nach?
  2. Planen Sie Ihre Mahlzeiten häufig schon mehrere Tage im Voraus?
  3. Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als der Genuss
  4. Hat die vermeintlich gesunde Ernährung zu einer Minderung Ihrer Lebensqualität geführt?
  5. Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?
  6. Verzichten Sie inzwischen auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben?
  7. Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch Ihre vermeintlich gesunde Ernährung
  8. Schauen Sie manchmal auf andere herab, die sich nicht ähnlich gesund ernähren?
  9. Haben Sie Schuldgefühle, wenn Sie von Ihrer Ernährungsform und Ihren selbst auferlegten Regeln abweichen?
  10. Haben Sie sich durch Ihre Essensgewohnheiten sozial isoliert?
  11. Wenn Sie sich gesund ernähren, fühlen Sie sich dann glücklich, weil Sie alles unter Kontrolle haben?

Folgen von Orthorexie

Orthorexia nervosa beginnt häufig schleichend und wird von Betroffenen anfangs nicht als krankhaft wahrgenommen – im Gegenteil: Ziel ist es ja, möglichst gesund zu leben. Wie paradox das ist, zeigen die möglichen Folgen, die aus den zwanghaften Ernährungsregeln entstehen können.

Körperliche Symptome von Orthorexie

Da Orthorektiker*innen sich häufig sehr einseitig ernähren, bestimmte Lebensmittelgruppen ausschließen oder nicht auf ihren Kalorienbedarf kommen, können unter anderem folgende körperliche Beschwerden auftreten:

Leidensdruck im Alltag

Nicht zu unterschätzen ist zudem der Leidensdruck, dem Menschen mit Orthorexie ausgesetzt sein können. Der ständige Fokus auf die Ernährung kann verschiedene Folgen nach sich ziehen:

Wie wird Orthorexie behandelt?

Das Krankheitsbild der Orthorexie wird kontrovers diskutiert. Das liegt unter anderem an der Frage, wie lange gesundheitsorientiertes Ernährungsverhalten vorbildlich und sinnvoll ist und ab wann es pathologisch, also krankhaft wird und behandelt werden sollte.

Orthorexie tritt häufig als Begleiterscheinung von Störungen wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder anderen psychischen Erkrankungen auf, die an sich schon dringend behandlungsbedürftig sind. Doch auch für sich genommen kann ein orthorektisches Verhalten ernste körperliche und psychische Beschwerden nach sich ziehen, die therapiert werden sollten.

Helfen kann zum Beispiel:

  • eine Psychotherapie oder Verhaltenstherapie
  • eine Ernährungsberatung
  • oder auch eine Selbsthilfegruppe.

Welches Hilfsangebot effektiv ist, kann für jede*n Betroffene*n verschieden sein. Ein wichtiger erster Schritt ist, die Störung als solche anzuerkennen und die Bereitschaft zu entwickeln, dagegen vorzugehen.

Was Betroffene selbst tun können

Betroffene können zudem versuchen, verbotene Lebensmittel wieder schrittweise in ihren Ernährungsplan einzubauen und zumindest zeitweise nach einem geregelten Plan zu essen. Denn so lässt sich vermeiden, dass sich die Gedanken pausenlos um die nächste Mahlzeit kreisen.

Vielen Betroffenen fehlt außerdem das Vertrauen in den eigenen Körper, da sich durch die permanente Restriktion kein natürliches Hunger- und Sättigungsgefühl mehr ankündigt. Damit diese Signale zurückkehren, kann es helfen, besonders achtsam – also ohne Ablenkung – zu essen und während der Mahlzeit in den Körper hineinzuspüren. Grundsätzlich empfehlen Fachleute aber, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, da eine orthorektische Störung in der Regel durch tiefgreifendere Ursachen ausgelöst wird. Das zwanghaft gesunde Essverhalten scheint also nur die Fassade zu sein, hinter die es sich zu blicken lohnt.