Das Bild zeigt Brit Weirich auf der Strecke des Mammutmarschs.
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100-Kilometer-Marsch: Zwischen Glücksgefühlen und Quälerei

Von: Brit Weirich (Medizinautorin, M.A. Mehrsprachige Kommunikation)
Letzte Aktualisierung: 08.12.2021

100 Kilometer. 24 Stunden. Zu Fuß. Extremwanderungen liegen voll im Trend. Von Jahr zu Jahr werden mehr Events angeboten und die Anmeldezahlen schießen in die Höhe. Doch viele unterschätzen diese Herausforderung. Die Finisher-Quote ist mit durchschnittlich 20 Prozent sehr gering. Der Körper stößt an seine Grenzen, doch in erster Linie muss die mentale Einstellung stimmen. Ich habe den Selbstversuch gewagt und mich beim Mammutmarsch NRW angemeldet.

100 km Ultra-Wanderung: Zwischen Glücksgefühlen und Quälerei

Zugegeben, lange Wanderungen sind keine neue Erfindung. Mittlerweile hat der alte Sport aber ganz andere Dimensionen erreicht, die fast einer Grenzerfahrung nahekommen. 24 Stunden ohne Schlaf auszukommen und bis zur Erschöpfung einen Fuß vor den anderen zu setzen, klingt eigentlich wenig reizvoll. Trotzdem hat mich irgendwie der Ehrgeiz gepackt, als ich zum ersten Mal auf die Ultrawanderung aufmerksam geworden bin. Das scheinbar Unmögliche, diese endlos lange Distanz, zog mich regelrecht an. Also meldete ich mich für den Mammutmarsch NRW an. Der Rundweg sollte quer durch das Bergische Land und das südliche Ruhrgebiet führen. Was bedeutete: Um einige unangenehme Höhenmeter – genau genommen fast 2.000 – komme ich nicht herum. Dafür werben die Veranstalter mit abwechslungsreichen Streckenabschnitten und einer Aussicht, die mich angeblich für alle Qualen entschädigen wird.

So habe ich mich vorbereitet

Ich will ganz ehrlich sein: Die Vorbereitung fiel bei mir eher bescheiden aus. Für eine mehrstündige Wanderung muss man erst einmal die Zeit finden – und auch der nächste Tag sollte möglichst zur Erholung dienen und nicht mit Terminen zugekleistert werden. Gerade einmal zwei lange Märsche von 45 und 55 Kilometer habe ich unternommen, einer davon fand nachts in einer Gruppe statt. Rückblickend kann ich nur dazu raten, vor dem Event mindestens einmal nachts zu wandern, da die Bedingungen einfach anders sind als tagsüber: Es ist kalt, du bist müde, und die Umgebung lenkt dich auch nicht mehr ab. Da ist die Versuchung groß, zwischendurch abzubrechen.

Was die Ausrüstung betrifft, habe ich mich an die offiziellen Empfehlungen des Veranstalters gehalten und mir auch ein paar Tipps bei erfahrenen Ultrawanderern geholt. Das Problem bei der Sache: Jeder empfiehlt dir etwas anderes. Von “Du musst unbedingt zwei Paar Schuhe und mindestens fünf Mahlzeiten einpacken” bis hin zu “Nach 50 Kilometern hast du sowieso wunde Füße und Essen brauchst du keines, das gibt es an den Verpflegungspunkten” war eigentlich alles dabei. Ich bin auf Nummer sicher gegangen und habe meine Eltern, die mich vor Ort unterstützt haben, mit allerlei nützlichem und auch sinnlosem Zeug ausgestattet. Letzten Endes bin ich aber ganz gut mit dem Equipment gefahren, dass ich am Körper und im Rucksack bei mir trug.

Generelle Ausstattung/Kleidung:

  • Warme Kleidung für die Nacht (Fleecejacke, zusätzliche lange Hose, Handschuhe, Multifunktionstuch für den Hals, Stirnband)
  • Regenjacke (Brauchte ich nicht, war aber Pflicht und ist bei Regen unerlässlich)
  • Handy mit GPS-Tracking und eine Powerbank sowie Kopfhörer
  • Routenplan vom Veranstalter
  • Blasenpflaster und Tape
  • Stirnlampe

Verpflegung:

  • Drei Liter Wasser in Flaschen (Konnte man an den Verpflegungsstellen immer wieder auffüllen)
  • Zwei größere Mahlzeiten (Nudelsalat, belegte Brote)
  • Diverse Power-Riegel
  • Bananen und Äpfel
  • Nüsse und Trockenfrüchte
  • Schokolade

Ein Tipp: Nehmt nur Sachen mit, die ihr gerne esst! Und ja, dann darf es ruhig auch mal Schokolade oder etwas anderes Ungesundes sein. Nichts ist weniger motivierend als ein zermatschtes Vollkornbrot bei Kilometer 70, auf das ihr eigentlich gar keine Lust habt. Die Aussicht auf die vielen Schokoriegel in meinem Rucksack war für mich auf jeden Fall ein kleiner Lichtblick.

Auf die Plätze, fertig, los!

Da ich in meiner Freizeit viel laufe, dachte ich bei der Anmeldung noch, ich schaffe das mit links. Fehlanzeige. Ein Ultramarsch ist kein Marathon! Bei meinen Vorbereitungswanderungen habe ich gemerkt, dass die Belastung eine komplett andere ist. Zum Glück, denn so bin ich mit dem nötigen Respekt an den Start gegangen und wusste: Es wird verdammt hart.

Und das war es am Ende auch. Eine Achterbahn der Emotionen und ein stetiger Kampf mit mir selbst. Als um 15 Uhr der Startschuss fiel, lief allerdings erstmal alles wie am Schnürchen. Das Wetter spielte mit und die ersten 30 Kilometer legte ich ganz entspannt zurück. An den Verpflegungspunkten wurden wir mit heißem Kaffee und aufmunternden Worten versorgt und auch auf der Strecke führte ich gute und interessante Gespräche. Zum Glück hatte ich direkt zu Beginn zwei nette Mitläufer gefunden. Als es dunkel wurde, hatte ich noch kein einziges Mal zu meinen Kopfhörern gegriffen. Die Playlist, die ich mir zu Motivationszwecken zusammengestellt hatte, war noch gar nicht notwendig.

Eine nicht endende Tort(o)ur

Aber dann begann der Teil der Strecke, vor dem ich den größten Respekt hatte. Die Nacht kam, es wurde kalt und meine Füße wollten nicht mehr. Zwischendurch fragte ich mich immer häufiger, was das alles eigentlich soll und warum ich nicht im warmen Bett liege oder mich auf der Feier amüsiere, zu der ich eingeladen war. Wenige Minuten später wiederum war ich ganz optimistisch, ja beinahe euphorisch, wenn ich an den Zieleinlauf am nächsten Tag dachte. Doch auf dieses Wechselspiel der Gedanken war ich vorbereitet, und ich zwang mich auch bei den schlimmsten Tiefpunkten, weiterzulaufen. Unter meinen Füßen hatten sich Blasen gebildet und ich war so müde, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte. Die angekündigten 2.000 Höhenmeter schienen sich allesamt im nächtlichen Waldabschnitt zu ballen und vor lauter Müdigkeit stolperten viele im Dunkeln über Steine und Wurzeln. Bei Kilometer 55 stieg einer meiner beiden Mitläufer aus und wir waren nur noch zu zweit. Ich blickte häufig auf die Uhr und freute mich dermaßen auf die Morgendämmerung. Ich sagte mir, dass bei Tagesanbruch das Schlimmste geschafft sei. Darüber kann ich heute nur lachen. Trotzdem war dieser Morgen etwas ganz Besonderes: Die aufgehende Sonne über der Ruhr, die Nebelschwaden auf dem glitzernden Wasser, die friedliche Stille. All das ließ mich meine Schmerzen für kurze Zeit vergessen.

Am vierten und letzten Verpflegungspunkt bei Kilometer 80 sprachen meine Eltern mir noch einmal kräftig Mut zu und nach einem kurzen Frühstück ging es dann auf die letzte Etappe. Diese letzten 20 Kilometer, die ich kurz zuvor noch mit den Worten “Ach, nur noch ein Halbmarathon” belächelt hatte, wurden zu einer einzigen Qual. Meine Blasen waren offen und es ging nur bergauf und bergab über Schotterwege. Nach so vielen Kilometern in den Füßen spürte ich jeden noch so kleinen Stein und wir kamen verhältnismäßig langsam voran. Nette Helfer standen am Rand und verteilten zur Aufmunterung Cola und Schokolade. Doch auch das half in diesem Moment nicht.

Meine Eltern begleiteten mich auf den letzten Kilometern und bekamen meine nicht mehr ganz so gute Laune ab. Diese letzten Kilometer fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Und damit war ich nicht alleine. 3 Kilometer vor dem Ziel saß ein Mann am Wegesrand und wollte einfach nicht mehr. Er kam nur mit Hilfe und der Überredungskunst meines Vaters wieder auf die Beine und blieb bis zum Ende noch einige Male unentschlossen stehen. Am Ende haben wir es aber alle geschafft – der Mann auf dem Boden, mein übriggebliebener Weggefährte und ich.

Im Ziel brach ich in Tränen aus, als ich zwei meiner engsten Freundinnen jubelnd an der Seite stehen sah. Für mich war dieses Event härter als jeder Marathon und alles, was ich bisher gemacht habe. Und dennoch verwandelten sich all meine Schmerzen für einen wunderschönen Moment lang in Glück und Stolz, als ich nach 22 Stunden und 28 Minuten diese verdammte Ziellinie überquerte. Der Schmerz in den Füßen kam zurück – Glück und Stolz blieben.

Nochmal das Ganze?

“Nie wieder”, davon war ich während des Marsches überzeugt. Doch jetzt, nur kurze Zeit später, bin ich schon wieder heiß auf das nächste Event. Die Organisation war super, die Atmosphäre toll und auch die Strecke hat mir rückblickend unglaublich gut gefallen. Ich habe mich richtig an der Natur und der Stille erfreuen können. Meine Füße sind zwar wund, aber es geht mir so gut wie lange nicht mehr. Die schöne Holzmedaille hängt natürlich schon an meiner Wand.

Mein Tipp für alle, die sich auch mal an einen Ultramarsch wagen wollen: Es ist zum Großteil Kopfsache! Ich habe mir im Vorfeld immer wieder gedanklich vor Augen geführt, wie hart und schmerzhaft die Wanderung sein wird. Ich war darauf vorbereitet, gegen den inneren Schweinehund zu kämpfen. Ich wollte am Ende um jeden Preis zu den Finishern zählen. Um ans Ziel zu kommen, braucht es einen starken Willen und weitaus mehr, als zwei gesunde Beine. Wer sich noch unsicher ist, kann auch erst einmal eine kürzere Distanz ins Auge fassen. Es gibt viele Veranstaltungen, die auch 35, 50 oder 70 Kilometer anbieten. Das Gefühl, über sich hinaus zu wachsen und mal die Komfortzone zu verlassen, ist die Anstrengung wirklich wert. Um es mit einem Zitat des Veranstalters zu sagen: “Verschiebe deine Grenzen, zeig' dir selbst, dass du nicht aufgibst, auch wenn alles in dir dich vom Gegenteil überzeugen will. Denn am Ende lohnt sich die Quälerei. Und am Ende darfst du dich zurecht fragen, was dich jetzt noch aufhalten soll!”