Jemand mit Gummihandschuhen trägt eine Labormaus auf den Händen
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mRNA-Impfstoff gegen Multiple Sklerose?

Von: Jasmin Krsteski (Biologin und Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 17.01.2022

Der Impfstoffhersteller BioNTech hat möglicherweise ein Mittel gegen Multiple Sklerose auf den Weg gebracht, das – ebenso wie der Impfstoff gegen das Coronavirus – auf dem mRNA-Verfahren basiert. Studien mit Mäusen zeigen vielversprechende Ergebnisse. Aber lassen sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen?

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

So funktioniert das Mittel

Während der Name BioNTech noch vor einem Jahr kaum jemandem etwas sagte, ist das Biotechnologie-Unternehmen mittlerweile weltbekannt. Es hat sich einen Namen gemacht, weil es in Rekordzeit einen Impfstoff gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 entwickelte, das auf dem neuartigen mRNA-Verfahren beruht.

Dass mit dem mRNA-Verfahren noch viel mehr möglich ist, zeigen nun neueste Forschungsergebnisse des Unternehmens. In einer Studie ist es den Forschern gelungen, die Entstehung von experimenteller autoimmuner Enzephalomyelitis (EAE) bei Mäusen mithilfe eines mRNA-Impfstoffs zu verhindern. EAE ist eine neurologische Erkrankung, die bei Labortieren nach einer Behandlung mit speziellen Proteinen hervorgerufen wird und in vielen Aspekten der Multiplen Sklerose beim Menschen ähnelt. Es handelt sich sozusagen um eine künstlich erzeugte Form von Multipler Sklerose bei Mäusen.

Das Mittel konnte im Versuch nicht nur verhindern, dass die Erkrankung bei den Tieren, die bereits Symptome zeigten, nicht weiter fortschritt. Lähmungserscheinungen konnten mit der Behandlung sogar rückgängig gemacht werden. Die Forscher glauben, dass das Mittel nicht nur Multiple Sklerose, sondern auch andere Autoimmunerkrankungen heilen könnte. Voraussetzung ist, dass es bereits frühzeitig angewendet wird.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung. Das Immunsystem soll den Körper eigentlich vor äußeren Bedrohungen wie Viren schützen. Bei einer Autoimmunerkrankung richtet es sich jedoch fälschlicherweise gegen normales, körpereigenes Gewebe. Jede Zelle trägt auf ihrer Oberfläche bestimmte Merkmale, die Antigene. Anhand von Antigenen erkennt unser Immunsystem einen Körper als "fremd“ und bildet Antikörper dagegen. Bei einer Autoimmunerkrankung behandelt der Körper Strukturen körpereigener Zellen wie Antigene fremder Zellen und bildet Antikörper dagegen. Im Fall der Multiplen Sklerose greift es die Umhüllungen der Nervenbahnen an. Daraus resultieren Lähmungen, Sehstörungen und Bewegungseinschränkungen. Häufig verläuft die Erkrankung in Schüben und schreitet immer weiter voran, wobei es sowohl leichte als auch schwere Verläufe gibt.

Gegen Multiple Sklerose existiert derzeit noch keine zufriedenstellende Therapie. Menschen mit MS behandelt man bislang zum Beispiel, indem man ihr Immunsystem teilweise unterdrückt. Damit wird die MS nicht ursächlich behandelt, sondern ihr Fortschreiten gehemmt. Der Nachteil dieser Behandlung ist, dass das Immunsystem als Ganzes beeinträchtigt wird.

So funktioniert das Mittel

Das mRNA-Verfahren stellt ein grundlegendes Prinzip dar, um Körperzellen Informationen mitzuteilen. So kann es beispielsweise Immunzellen vermitteln, wie ein bestimmtes Virus oder eine Krebszelle aussieht, die es bekämpfen soll. Aus diesem Grund zeigte die Methode auch im Kampf gegen Krebs bereits vielversprechende Erfolge.

Das nun von BioNTech gegen Multiple Sklerose entwickelte Mittel soll dem Körper mithilfe eines mRNA-Moleküls helfen, das körpereigene Gewebe wieder als solches zu erkennen, also "immuntolerant“ zu werden. Als "Immuntoleranz“ bezeichnet man die wichtige Fähigkeit des Immunsystems, zwischen fremden und körpereigenen Zellen zu unterscheiden.

Der Impfstoff enthält die mRNA für Myelin, einen Bestandteil der Myelinhülle der Nerven. Gegen diesen richten sich die Antikörper bei MS bzw. im Mausversuch bei EAE. Der Impfstoff liefert dieses Antigen an die antigenpräsentierenden Zellen der Lymphknoten im ganzen Körper. Damit werden körperfremde bzw. körpereigene Faktoren für das Immunsystem erkennbar gemacht.

Der Körper setzt nun für die entsprechenden körpereigenen Zellen sogenannte „regulatorische T-Zellen“ frei. Die haben im Körper die Aufgabe, das Immunsystem und die Immuntoleranz zu regulieren. Sie unterdrücken die Aktivierung des Immunsystems in Bezug auf bestimmte Antigene. So sorgen sie beispielsweise dafür, dass ein Fetus vom Körper der Mutter nicht abgestoßen wird. In der Folge wird das Immunsystem tolerant gegenüber diesen speziellen Antigenen und produziert keine Antikörper mehr gegen sie.

Anders als bei der herkömmlichen Therapie wird also nicht das Immunsystem im Ganzen geschwächt. Stattdessen wird spezifisch in die Immunabwehr gegen die Antigene eingegriffen, die das Immunsystem fälschlicherweise als fremd erkennt und angreift.

Wirkt der Impfstoff auch beim Menschen?

Bei Mäusen zeigte das Mittel hervorragende Wirkung. Das Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) nennt die Studie "höchstwertig und wissenschaftlich von größter Bedeutung". Es weist jedoch darauf hin, dass die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf den Menschen zu übertragen sind. Anders als bei den Mäusen sei beim Menschen das Ziel-Antigen nämlich nicht bekannt. Bereits seit vielen Jahren versuchen Forscher bislang erfolglos herauszufinden, gegen welche Antigene das Immunsystem bei MS Antikörper bildet. Außerdem ist das System "Mensch" um einiges komplexer als das der Maus.

Gegen welche Antigene sich der Körper richtet, kann von Mensch zu Mensch auch noch unterschiedlich sein. In der Studie mit den Mäusen ist es jedoch offenbar gelungen, mit einem einzigen Antigen eine Toleranz für das gesamte Myelingewebe hervorzurufen. Falls es gelingt, dies auch auf den Menschen zu übertragen, wäre ein universelles Mittel gegen verschiedene MS-Formen gefunden. Um das zu testen, möchte BioNTech die Impfung in einem nächsten Schritt im Labor an menschlichen Immunzellen testen. Bis das Mittel schließlich beim Menschen selbst zum Einsatz kommt, können jedoch zwei bis drei Jahren vergehen.