Miller-Dieker-Syndrom
Das Miller-Dieker-Syndrom (MDS) ist eine sehr seltene angeborene Störung: Die betroffenen Babys haben Auffälligkeiten im Gesichtsbereich und schwere Behinderungen infolge einer bestimmten Fehlbildung am Gehirn.
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Überblick
Beim Miller-Dieker-Syndrom sind die Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci) in der Großhirnrinde (Kortex) des Gehirns mangelhaft ausgeprägt. Dies führt dazu, dass die Oberfläche des Gehirns relativ glatt erscheint – diesen Zustand bezeichnet man als Lissenzephalie (= glattes Gehirn: griech. lissos = glatt, enzephalon = Gehirn).
Die Ausbildung der Hirnwindungen (sog. Gyrierung) kann in unterschiedlichem Ausmaß gestört sein: Bei der vollständigen Lissenzephalie fehlen die Hirnwindungen und Furchen in der Großhirnrinde völlig (sog. Agyrie). Eine weniger starke Gyrierungsstörung führt zur unvollständigen Lissenzephalie, bei der sich zumindest an manchen Stellen wenige breite Hirnwindungen und flache Furchen finden (sog. Pachygyrie). Beim Miller-Dieker-Syndrom ist die Lissenzephalie meist vollständig.
Die Miller-Dieker-Lissenzephalie ist die Folge einer sehr seltenen Entwicklungsstörung in den ersten Wochen der Embryonalentwicklung: Sie entsteht, weil die Wanderung der Nervenzellen an die Hirnoberfläche in den ersten Schwangerschaftswochen gestört ist (sog. Migrationsstörung).
Ursache für das Miller-Dieker-Syndrom ist ein verändertes Erbgut: Diese Veränderung geschieht entweder in der frühen Phase der Embryonalentwicklung oder vollzieht sich vorab, wenn Ei- beziehungsweise Samenzellen der Eltern entstehen. Eine Vererbung des Miller-Dieker-Syndroms durch vorherige Generationen findet nicht statt.
Typisches Anzeichen für das Miller-Dieker-Syndrom ist neben der Gehirnfehlbildung vor allem die auffällige Gesichtsform mit kurzer, nach oben gerichteter Nase. Das Miller-Dieker-Syndrom geht mit einer geistigen Behinderung einher, daher bleiben die betroffenen Kinder auf dem Stand eines Säuglings und benötigen lebenslang eine intensive Betreuung.
Eine Therapie, mit der man die Ursachen des Miller-Dieker-Syndroms beseitigen oder deren Auswirkungen abschwächen könnte, steht nicht zur Verfügung. Allerdings übertreffen manche Kinder trotz Miller-Dieker-Syndrom die durchschnittliche Lebenserwartung erheblich – sicherlich nicht zuletzt aufgrund einer intensiven und liebevollen Betreuung.
Definition
Das Miller-Dieker-Syndrom (MDS) ist ein Krankheitsbild, das mit schweren Fehlbildungen – wie einer auffälligen Gesichtsform und einer Hirnfehlbildung namens Lissenzephalie – einhergeht.
Der Begriff Lissenzephalie bedeutet glattes Gehirn (griech. lissos = glatt, enzephalon = Gehirn) und beschreibt die völlig fehlende oder unvollständige Ausbildung der Hirnwindungen (sog. Gyrierung). Normalerweise weist die Oberfläche des Gehirns – die Großhirnrinde (Kortex) – deutlich ausgeprägte Hirnwindungen (Gyri) und Furchen (Sulci) auf. Diese bilden sich etwa ab der 22. Schwangerschaftswoche aus. Bestimmte Faktoren können die Entwicklung der Großhirnrinde während der Embryonalzeit stören und dazu führen, dass die Großhirnrinde relativ glatt bleibt – die Folge kann das Miller-Dieker-Syndrom sein.
Eine vollständige Lissenzephalie, bei der das Hirn aufgrund einer ausgeprägten Gyrierungsstörung gar keine Hirnwindungen und Furchen aufweist, heißt Agyrie. Bei einer unvollständigen Lissenzephalie finden sich zumindest in einigen Bereichen wenige breite Hirnwindungen und flache Furchen. Diesen Zustand nennt man Pachygyrie. Die meisten Lissenzephalien beim Miller-Dieker-Syndrom sind Agyrien.
Neben dem Miller-Dieker-Syndrom gibt es noch weitere Entwicklungsstörungen des Gehirns, die zu Lissenzephalien führen – zum Beispiel:Isolierte Lissenzephalie
- die isolierte Lissenzephalie-Sequenz,
- das Fukuyama-Syndrom und
- das Walker-Warburg-Syndrom.
Bei Kindern mit einer Miller-Dieker-Lissenzephalie stagniert die geistige und motorische Entwicklung. Die betroffenen Kinder lernen nicht laufen, nicht sprechen und haben oft große Probleme bei der Nahrungsaufnahme. Sie benötigen eine lebenslange intensive Pflege und Zuwendung. Die meisten haben eine geringe Lebenserwartung und sterben wenige Wochen nach der Geburt; nur selten kommen die Betroffenen über das Kindesalter hinaus.
Häufigkeit
Das Miller-Dieker-Syndrom weist eine sehr geringe Häufigkeit auf: Es findet sich bei 1 von 50.000 Geburten.
Ursachen
Das Miller-Dieker-Syndrom (MDS) ist angeboren und hat seine Ursachen in einer erblich bedingten Entwicklungsstörung des Gehirns: Verantwortlich hierfür sind bestimmte Veränderungen im Erbgut.
Meist entsteht das Miller-Dieker-Syndrom durch eine spontane Veränderung (sog. Mutation), bei der ein Teilstück eines bestimmten Chromosoms (= Chromosom 17) verloren geht. Chromosomen sind fadenförmige Gebilde im Zellkern; Menschen haben normalerweise 46 paarweise angeordnete Chromosomen – also 23 Paare. Da auf ihnen die Gene (= Träger der Erbanlage) liegen, gehen beim Verlust eines Chromosomenstücks auch die jeweiligen Gene (und somit ein Teil der Erbinformationen) verloren.
Das beim Miller-Dieker-Syndrom fehlende Gen enthält Informationen für die Bildung eines Eiweißes, das wahrscheinlich unter anderem eine wichtige Funktion bei der Signalübertragung der Nervenzellen erfüllt. Sein Verlust erklärt die beim Miller-Dieker-Syndrom fehlenden Hirnwindungen (sog. Lissenzephalie):
- Ein gesundes Gehirn weist unter der Oberfläche der Großhirnrinde (Kortex) eine große Anzahl Nervenzellen auf.
- Dorthin wandern die Nervenzellen normalerweise während der Gehirnentwicklung beim Fötus.
- Der für das Miller-Dieker-Syndrom verantwortliche Genverlust wirkt sich negativ auf die Signalübertragung der Nervenzellen aus.
- Die Folge: Die Wanderung der Nervenzellen während der embryonalen Gehirnentwicklung ist gestört (sog. Migrationsstörung).
- Dadurch können viele Zellen die Großhirnrinde nicht erreichen – es entsteht eine Lissenzephalie.
Die Veränderung des Erbguts, welche die Ursache für das Miller-Dieker-Syndrom ist, geschieht entweder in der frühen Phase der Embryonalentwicklung oder während die Ei- beziehungsweise Samenzellen der Eltern entstehen. In diesem Fall gibt entweder der Vater oder die Mutter den Gendefekt an das Kind weiter, ohne selbst erkrankt zu sein.
Symptome
Für das Miller-Dieker-Syndrom (MDS) sind folgende Symptome typisch: ein relativ glattes Gehirn (sog. Lissenzephalie) und Auffälligkeiten im Gesicht – vor allem im Bereich der Augen, der Nase und der Ohren.
Bei Neugeborenen macht sich das Miller-Dieker-Syndrom vor allem durch Auffälligkeiten am Kopf bemerkbar: Die betroffenen Babys haben in der Regel eine auffällige Gesichtsform mit einer kurzen, nach oben gerichteten Nase. Ihre Ohren sitzen häufig tief und sind ungewöhnlich geformt; die Oberlippe ist oft dick. Es entwickelt sich eine Mikrozephalie, das heißt der Schädel ist zu klein.
Außerdem haben Kinder mit Miller-Dieker-Syndrom in der Regel ein niedriges Gewicht. Sie sind geistig schwer behindert (sog. Oligophrenie) und bleiben auf der Entwicklungsstufe eines Säuglings stehen. Daher lernen sie weder laufen noch sprechen oder selbstständig essen.
Daneben können beim Miller-Dieker-Syndrom folgende Symptome auftreten:
- Herzfehler (65% der Fälle), zum Beispiel fallotsche Tetralogie, unverschlossener Ductus Botalli (Verbindung zwischen Lungenarterie und Hauptschlagader, die sich normalerweise nach der Geburt verschließt)
- Fehlbildungen in den Harn- oder Geschlechtsorganen
- Krampfanfälle (Epilepsie)
- spastische Lähmungen
- Sehstörungen
- Störungen des Größenwachstums
- Probleme bei der Nahrungsaufnahme
Lissenzephalie
Agyrie
gar keine Hirnwindungen und Furchen
Pachygyrie
Diagnose
Beim Miller-Dieker-Syndrom (MDS) kann eine Ultraschalluntersuchung (Sonographie) schon vor der Geburt erste Hinweise für die Diagnose liefern. Die für das Miller-Dieker-Syndrom typischen Veränderungen lassen sich aber frühestens ab der 26. Schwangerschaftswoche erkennen: Die Lissenzephalie ("glattes Gehirn") ist erst dann zu sehen, da sich die Hirnfalten nicht vor der 22. Woche ausbilden. In früheren Stadien der Schwangerschaft ist ein glattes Gehirn bei einem gesunden Ungeborenen demnach der Normalzustand.
Die Ultraschalluntersuchung ist zum Nachweis der Fehlbildung am Gehirn jedoch nicht sehr zuverlässig. Um das Miller-Dieker-Syndrom zu diagnostizieren, ist zusätzlich eine genauere Beurteilung des Gehirns durch eine vorgeburtliche Magnetresonanztomographie (MRT) nötig. Der für das Miller-Dieker-Syndrom verantwortliche Schaden am Erbgut (sog. Gendefekt) lässt sich mithilfe einer Fruchtwasseruntersuchung nachweisen: Die darin enthaltenen Chromosomen (= fadenförmige Gebilde im Zellkern, die Erbgut tragen) kann man dann im Labor näher untersuchen, um den Defekt festzustellen.
Nach der Geburt weisen das äußere Erscheinungsbild und sonstige Symptome der Kinder auf ein Miller-Dieker-Syndrom hin. Um die Diagnose genauer einzugrenzen, kann eine Computertomographie (CT) oder eine Magnetresonanztomographie (MRT) zum Einsatz kommen. In etwa 90 Prozent der Fälle gelingt es, den ursächlichen Gendefekt nachzuweisen: Für diese sogenannte Chromosomenanalyse reicht eine Blutprobe von einigen Millilitern Blut.
Therapie
Die Ursache für das Miller-Dieker-Syndrom (MDS) lässt sich durch keine Therapie beseitigen. Daher zielt die Behandlung der angeborenen Störung darauf ab, die Symptome der Gehirnfehlbildung zu lindern und den betroffenen Kindern eine lebenslange intensive und liebevolle Betreuung unter ärztlicher Mithilfe zukommen lassen.
Verlauf
In Einzelfällen kann das Miller-Dieker-Syndrom (MDS) einen weniger schweren Verlauf nehmen: Manche Kinder erreichen trotz ihrer Fehlbildung am Gehirn – sicherlich nicht zuletzt aufgrund einer intensiven und liebevollen Betreuung – ein erheblich höheres Alter als sechs Monate. Das älteste beobachtete Kind mit Miller-Dieker-Lissenzephalie wurde zehn Jahre alt.
Meistens verläuft das Miller-Dieker-Syndrom aber schwerwiegender: Etwa die Hälfte der Kinder mit Miller-Dieker-Lissenzephalie haben eine Lebenserwartung von höchstens sechs Lebensmonaten, vor allem bei einem zusätzlichen Herzfehler. Die anderen Kinder sterben meist im Kleinkindalter.
Jedoch berichten Eltern, die ein Kind mit Miller-Dieker-Syndrom zur Welt gebracht haben, dass sie das Kind trotz seiner schweren Behinderung als Bereicherung ihres Lebens betrachten beziehungsweise betrachtet haben.
Vorbeugen
Dem Miller-Dieker-Syndrom (MDS) können Sie nicht grundsätzlich vorbeugen: Die einzige Maßnahme besteht darin, sich bei Risikoschwangerschaften (d.h., wenn Sie mit über 35 Jahren schwanger sind oder wenn familiäre Auffälligkeiten bestehen) vorgeburtlichen Untersuchungen im Rahmen einer Pränataldiagnostik zu unterziehen. Zeigt der Untersuchungsbefund, dass bei dem Ungeborenen ein Miller-Dieker-Syndrom vorliegt, können Sie sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, wenn Sie dies nach ausführlicher Beratung wünschen.