Ein Mann sitzt auf dem Boden und scheint zu träumen, über seinem Kopf schwebt eine bunte Wolke.
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Synästhesie

Von: Brit Weirich (Medizinautorin, M.A. Mehrsprachige Kommunikation)
Letzte Aktualisierung: 13.04.2022

Farben hören, Buchstaben fühlen: Was für einige Menschen unvorstellbar klingt, ist für andere Realität. Diese besondere Wahrnehmung von Sinnesreizen nennt man Synästhesie. Lesen Sie, welche Synästhesie-Varianten es gibt und wie sich die abweichende Reizempfindung feststellen lässt.

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

Synästhesie: Überblick

Das Phänomen der Synästhesie zeichnet sich durch seine Vielfältigkeit aus: Unzählige unterschiedliche Reize können ebenso viele verschiedene synästhetische Wahrnehmungen auslösen. Allerdings sind bestimmte Verknüpfungen zwischen normaler Reizwahrnehmung und zusätzlicher Sinnesempfindung immer wieder zu beobachten:

So können zum Beispiel etwa zwei Drittel der Menschen mit Synästhesie schwarz-weiße Texte und Zahlen in Farbe sehen oder Buchstaben fühlen. Das sogenannte Farbenhören (bzw. Coloured Hearing) ist eine weitere Variante der Synästhesie: Hierbei erleben die Betroffenen Töne, Musik oder Sprache zusammen mit Farben.

Vieles deutet darauf hin, dass die Synästhesie erblich bedingt ist: Zum einen scheint die Synästhesie angeboren zu sein, da Synästhetiker*innen ihre zusätzlichen Sinnesempfindungen eigenen Angaben zufolge schon immer hatten. Zum anderen treten Synästhesien in Familien deutlich gehäuft auf.

Darüber hinaus kann eine Synästhesie in folgenden Fällen auch vorübergehend als trughafte Wahrnehmung auftreten: 

Um festzustellen, ob jemand eine Synästhesie hat, sind Verhaltenstests und Hirnscans geeignet. Ein einfacher Synästhesie-Test kann zum Beispiel darin bestehen, unterschiedliche Töne und Farbtafeln einander zuzuordnen:

  • Ein*e Nicht-Synästhet*in ordnet in einem solchen Test helle Töne eher hellen Farben zu,
  • während ein*e Synästhet*in von diesem typischen Zuordnungsmuster abweicht.

Daneben können bildgebende Verfahren zeigen, dass das Gehirn eines Menschen mit Synästhesie anders verschaltet ist als das von Nicht-Synästhetiker*innen: Wenn ein Synästhet beispielsweise beim Musikhören Farben wahrnimmt, ist neben seinem Hörzentrum gleichzeitig sein Sehzentrum aktiv. Sichtbar machen kann dies zum Beispiel:

Was ist Synästesie?

Synästhesie bezeichnet per Definition eine Kopplung von Sinnesempfindungen: Das Wort Synästhesie setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern syn (= zusammen) und aisthesis (= Empfindung). Synästhesie bedeutet in etwa Sinnesverschmelzung. Ein Mensch mit dieser Art der erweiterten Wahrnehmung heißt Synästhetiker*in oder Synästhet*in.

Bei der häufigsten Form der Synästhesie nehmen die Betroffenen Gehörtes – wie Sprache, Musik oder Geräusche – unwillkürlich zusammen mit Zweitempfindungen (sog. Photismen) wahr. Bei diesen Photismen kann es sich um

  • Farben,
  • geometrische Formen
  • oder Farbmuster

handeln. Den ursprünglichen Auslöser, also den über das Ohr wahrgenommenen Reiz, und die optischen Zweitempfindungen erleben die Betroffenen als Einheit. Synästhesien sind individuell einzigartig: Jede*r Synästhet*in erlebt sie anders. In der Regel sind Menschen mit einer Synästhesie neurologisch und psychisch völlig gesund.

Vermutlich haben viele von ihnen dank der Synästhesie sogar größere Fähigkeiten, zum Beispiel in Sachen Kreativität (was sich oft in der Kunst zeigt). Berühmte Synästhetiker waren zum Beispiel die Komponisten Franz Liszt und Jean Sibelius sowie der Schriftsteller Vladimir Nabokov.

Wie viele Menschen haben Synästhesie?

Die zur Synästhesie vorliegenden Angaben zur Häufigkeit sind sehr unterschiedlich: Schätzungsweise ist mindestens 1 von 2.000 Menschen ein*e Synästhet*in; möglicherweise auch bis zu 1 von 200. Dabei kann die Dunkelziffer wesentlich höher sein – unter anderem, weil sich viele Menschen ihrer Synästhesie gar nicht bewusst sind. In etwa 40 Prozent der Fälle treten verschiedene Varianten der Synästhesie bei einem Betroffenen auf, manche Varianten jedoch nur einmal unter 200 Betroffenen.

Ursachen der Synästhesie

Eine Synästhesie hat erbliche Ursachen: Synästhetiker*innen berichten, dass die zusätzlichen Wahrnehmungen schon immer bei ihnen auftraten. Dies deutet darauf hin, dass Synästhesie angeboren ist. Die systematische Analyse der Stammbäume von Synästhetiker*innen bestätigt dies: Synästhesien kommen familiär deutlich gehäuft vor (bei 25% der Angehörigen ersten Grades).

Die für eine Synästhesie kennzeichnende Verkopplung von Sinneseindrücken entsteht durch abweichende Nervenverknüpfungen: Das Gehirn ist bei Menschen mit Synästhesie anders verschaltet als bei Nicht-Synästhetiker*innen, sodass ein einzelner Sinnesreiz mindestens zwei Sinnesempfindungen verursacht. Dies ist auch messbar: Wenn Menschen mit Synästhesie Musik oder Sprache hören, dann ist in ihrem Gehirn nicht nur das Hörzentrum aktiv, sondern gleichzeitig auch das Sehzentrum, das eigentlich nur Gesehenes verarbeitet. Dies ist ein Beleg dafür, dass die synästhetische Wahrnehmung auf Vorgängen im Gehirn beruht und sich Menschen mit Synästhesie die wahrgenommenen Farben nicht bloß einbilden.

Halluzinationen

Bei dauerhaft bestehender Synästhesie sind die zusätzlichen Sinnesempfindungen keine Halluzinationen: Synästhet*innen erleben die Sinneswahrnehmungen mit offenen Augen im normalen Tagesbewusstsein. Synästhetisches Erleben beruht darauf, dass eine Erstwahrnehmung (wie das Hören von Tönen) eine Zweitwahrnehmung (wie das Sehen von Farben) auslöst. Bei Halluzinationen hingegen ist die Wahrnehmung gestört, das heißt hier ist schon die Erstwahrnehmung krankhaft verändert. Halluzinationen können im Gegensatz zu Synästhesien Anzeichen für Krankheiten sein.

Drogeninduzierte Synästhesie

Allerdings kommen für eine Synästhesie als Ursachen auch drogeninduzierte Halluzinationen infrage: Ein*e Synästhet*in erfährt seine Synästhesie zwar ohne Einfluss von Drogen, aber ein*e Nicht-Synästhet*in kann unter Drogeneinfluss synästhetische Sinneswahrnehmungen haben.

So ist es beispielsweise mit LSD möglich, eine Synästhesie bei Menschen zu verursachen, die diese Eigenschaft sonst nicht besitzen. Auch andere Drogen können sich auf die Synästhesie auswirken. Unter anderem ist Folgendes zu beobachten:

Symptome einer Synästhesie

Die für eine Synästhesie kennzeichnenden Symptome sind verkoppelte Sinnesempfindungen: Ein einzelner Sinnesreiz löst neben der normalen Wahrnehmung (der Erstempfindung) mindestens eine weitere Sinnesempfindung (eine Zweitempfindung) aus. Es sind viele Formen der Synästhesie bekannt. Wie diese ausgeprägt sind und was sie für das alltägliche Denken und Fühlen der Betroffenen bedeuten, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Allgemein gelten für eine Synästhesie die folgenden Merkmale:

  • Eine Synästhesie ist örtlich schwer bestimmbar, das heißt der Synästhet kann sie in seinem Kopf oder außerhalb seines Körpers wahrnehmen.
  • Ein Synästhet erlebt Synästhesien als reale Erscheinungen.
  • Synästhesien sind individuell einzigartig und lebenslang konstant.
  • Eine Synästhesie ist meistens nicht umkehrbar (One-Way-Effekt) – so ist zum Beispiel eine Fünf jedes Mal mit einem bestimmten Blau verknüpft, aber nicht jedes Blau mit der Fünf.
  • Eine synästhetische Wahrnehmung prägt sich dem Gedächtnis ein: So kann sich ein Synästhet zum Beispiel an Farben beim Hören besser erinnern als an den auslösenden Reiz (Geräusche oder Töne).
  • Die bei Synästhesie typische Verkopplung von Sinnesempfindungen geschieht unwillkürlich und lässt sich nicht unterdrücken.
  • Synästhesien treten gehäuft in Familien auf.
  • Gedächtnisleistungen und Kreativität können bei Menschen mit Synästhesie besonders gut ausgeprägt sein.
  • Eine Synästhesie gleicht eher Empfindungen als einem Gedanken.
  • Die Synästhesie war schon immer vorhanden. Ein Synästhet erinnert sich an diese Wahrnehmungen, soweit seine Erinnerung reicht.

Synästhesie-Varianten

Das Phänomen der Synästhesie zeigt im Hinblick auf die jeweils kennzeichnenden Symptome – die Art der gekoppelten Sinnesempfindungen – unzählige Varianten. Es sind zahlreiche unterschiedliche Erstempfindungen bekannt, die viele unterschiedliche Zweitempfindungen auslösen können, zum Beispiel:

  • Eine akustische Erstempfindung (Geräusche, Töne, ...) löst visuelle oder taktile Zweitempfindungen aus. Dabei gilt das sogenannte Farbenhören (auch Coloured Hearing), also durch Geräusche ausgelöste Farbwahrnehmung, als häufigste Art der Synästhesie.
  • Eine visuelle Erstempfindung (Zahlen, Farben, ...) ruft akustische und/oder olfaktorische Zweitempfindungen hervor.
  • Eine olfaktorische Erstempfindung (Gerüche) verursacht akustische, visuelle und/oder taktile Zweitempfindungen (sog. Geruchssynästhesien).
  • Eine taktile Erstempfindung (Gefühltes) löst visuelle, akustische und/oder olfaktorische Zweitempfindungen aus (sog. taktile oder haptische Synästhesien: griech. haptein = berühren, erfassen).
  • Eine gustatorische Erstempfindung (Geschmack) ruft visuelle, akustische oder taktile Zweitempfindungen hervor.

Korrelierende Eigenschaften

Manche Menschen mit Synästhesie verfügen – neben den Besonderheiten bei der Sinneswahrnehmung – zusätzlich über bestimmte Fähigkeiten. Diese galten lange als möglicherweise mit der Synästhesie in Wechselbeziehung stehende (korrelierende) Eigenschaften. Beispiele hierfür sind:

  • Übersteigertes Erinnerungsvermögen (Hypermnesie): überdurchschnittliche bis außergewöhnliche Gedächtnisleistungen wie das Sich-Merken von Zahlenkombinationen (Telefonnummern oder Ähnliches) über Farbkombinationen
  • Verstärkte Reaktionsbereitschaft auf Reize (Hypersensitivität): intensives Erleben, sensibles Gleichgewicht aufgrund des intensiven Erlebens (somit kann eine Synästhesie bereits in alltäglichen Situationen zu einer Reizüberflutung führen)

Allerdings ist die Synästhesie selbst wahrscheinlich nicht für diese Leistungsvorteile verantwortlich. Möglicherweise sind diese scheinbar korrelierenden Eigenschaften einfach auf individuelle Unterschiedlichkeiten zurückzuführen. Oder aber manche Synästhet*innen nutzen ihre gekoppelten Sinnesempfindungen auf strategische Weise als eine Art Gedächtnisstütze (wie Eselsbrücken bei Nicht-Synästhet*innen).

Ähnliche Wahrnehmungen bei Nicht-Synästhetiker*innen

Auch Menschen ohne Synästhesie können Synästhesie-ähnliche Symptome in Form von zusätzlichen Wahrnehmungen haben. Ähnliche Wahrnehmungen bei Nicht-Synästhetiker*innen sind sogar relativ weit verbreitet: Beispiele hierfür sind aufsteigende Erinnerungs- oder Phantasiebilder beim Musikhören.

Im Gegensatz dazu erleben Menschen mit einer Synästhesie Mehrfachwahrnehmungen jedoch unwillkürlich, ständig in allen Situationen und mit größerer Intensität. Außerdem ordnen Nicht-Synästhetiker*innen Töne und Farben nach bestimmten Zuordnungsgesetzen so zu, dass sie mit den gängigen kulturellen Entsprechungen übereinstimmen (z. B.: heller Ton – helle Farbe). Bei Synästhetiker*innen sind derartige Zuordnungen stark individuell und nicht in gleicher Weise strukturierbar; sie folgen eigenen Gesetzen.

Synästhetiker*innenNicht-Synästhetiker*innen
unfreiwillig und passivfreiwillig und aktiv
große Varianz innerhalb der Persongeringe Varianz innerhalb der Person
häufig absolute Zuordnungenmeist relative Zuordnungen
nicht kontextabhängigkontextabhängig, fragebedingt
 

Diagnose der Synästhesie

Bei einer Synästhesie bieten sich zur Diagnose Verhaltenstests und Hirnscans an.

Einfache Zuordnungstests zur Diagnose einer Synästhesie bestehen zum Beispiel darin, Versuchspersonen Töne mit unterschiedlicher Grundtonfrequenz vorzuspielen, denen sie eine von mehreren Farbtafeln zuordnen sollen:

  • Menschen ohne Synästhesie neigen in einem solchen Test dazu, hellen Tönen helle Farben zuzuordnen,
  • während ein*e Synästhet*in die im Test vorgespielten Töne abweichend von diesen typischen Zuordnungsgesetzen visualisiert.

Das Gehirn von Synästhet*innen ist anders verschaltet als das von Nicht-Synästhet*innen. Daher ist, wenn ein Mensch mit Synästhesie beispielsweise Musik oder Sprache hört, nicht nur das Hörzentrum des Gehirns aktiv, sondern gleichzeitig auch das Sehzentrum. Mit bestimmten bildgebenden Verfahren kann man diese Querverschaltung im Gehirn darstellen: So können beispielsweise eine funktionelle Magnetresonanztomographie oder eine Positronen-Emissions-Tomographie) dazu beitragen, eine Synästhesie zu diagnostizieren.

Kann die Synästhesie behandelt werden?

Die Synästhesie macht keine Therapie notwendig, denn: Die Synästhesie ist keine Krankheit, sondern nur eine erweiterte Form der Wahrnehmung.

Verlauf der Synästhesie

Die Synästhesie besteht in der Regel von Geburt an und zeigt häufig einen fortschreitenden Verlauf: Viele Synästhetiker*innen berichten, dass ihre synästhetischen Wahrnehmungen zunehmen, je älter sie werden.

Der erweiterten Wahrnehmung vorbeugen

Einer Synästhesie können Sie nicht vorbeugen. Dies ist aber kein Problem, denn: Die bei Synästhetiker*innen erweiterte Wahrnehmung ist nicht krankhaft, sondern eine besondere Fähigkeit, die wahrscheinlich angeboren ist.