Ein Mann in Denkerpose, daneben als Illustration der Denkprozess dargestellt.
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Das Gedächtnis: Erinnern und Vergessen

Von: Wiebke Posmyk (Medizinjournalistin, Diplom-Pädagogin, M.A. Media Education)
Letzte Aktualisierung: 29.12.2021

Egal, ob wir uns an den ersten Kuss in unserer Jugend erinnern oder an das gerade vergangene Gespräch mit dem Chef: Ohne Gedächtnis wären wir aufgeschmissen.

Unser Informationsspeicher

Wie belastend es ist, wenn das Gedächtnis beeinträchtigt ist, wird am Beispiel von Menschen mit Demenz eindrucksvoll deutlich: Zuerst wird das Kurzzeitgedächtnis in Mitleidenschaft gezogen – der Betroffene kann sich etwa nicht mehr daran erinnern, dass er gerade eben noch telefoniert hat.

In späteren Krankheitsstadien lässt das Gedächtnis immer mehr nach. Schließlich verblasst auch die Erinnerung an Vertrautes und früher Erlerntes. Diese Phase kann vor allem für Angehörige sehr bedrückend sein, da der Erkrankte Familienmitglieder, gute Freunde und andere ihm vertraute Personen nicht mehr erkennt. Auch Orte, die der Person viel bedeutet haben und mit denen sie Emotionen und für sie wichtige Eindrücke verbindet, weichen nach und nach aus dem Gedächtnis.

Ob eine aufgenommene Information im Gedächtnis gespeichert wird oder ob die Daten wieder „verloren gehen“ beziehungsweise nicht mehr abrufbar sind, hängt von einem komplexen Prozess ab. Sämtliche Informationen, die wir täglich aufnehmen, werden vor dem Speichern unbewusst sortiert, zusammengefasst, bewertet und auch mit bestimmten Emotionen verknüpft. An diesem Vorgang sind unterschiedliche Hirnareale beteiligt. Letztlich legt das Gehirn die Informationen an verschiedenen Orten im Gedächtnis ab.

Das Gedächtnis kann man aus verschiedenen Blickwinkeln umschreiben. Aus zeitlicher Sicht unterteilt man es grob in das

  • Kurzzeitgedächtnis und das
  • Langzeitgedächtnis.

Das Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen nur für einen kurzen Zeitraum und seine Speicherfähigkeit ist begrenzt. Im Langzeitgedächtnis befinden sich dauerhaft für uns wichtige Informationen, die auch länger zurückliegen können.

Nicht nur äußere Eindrücke, auch Vorstellungen und Phantasien speichert unser Gedächtnis: Stellen wir uns zum Beispiel vor, auf einer Sommerwiese zu liegen, werden dieselben Bereiche im Gehirn aktiviert, die auch bei einem echten Erlebnis reagieren würden.

Das Kurzzeitgedächtnis

Unser Kurzzeitgedächtnis ist quasi die "Zwischenablage" für Informationen, die wir nur für einen kurzen Zeitraum benötigen. Ohne seine Funktion könnten wir uns an Ereignisse oder Erfahrungen, die unmittelbar passiert sind, nicht erinnern. Das Kurzzeitgedächtnis kommt nahezu permanent zum Einsatz.

Eine grüne Ampel, der Wetterbericht im Radio, der Geruch einer frisch gemähten Wiese, Wasser, das beim Duschen die Haut berührt … Tag für Tag strömen unzählige Sinneseindrücke auf uns ein. Nehmen unsere Sinnesorgane eine Information wahr, bleibt diese für Millisekunden im sogenannten Ultrakurzzeitgedächtnis, auch sensorisches Gedächtnis genannt. Anschließend gelangen die Daten je nach Relevanz entweder in das Kurzzeitgedächtnis – oder werden gar nicht erst gespeichert, weil sie nicht wichtig für uns sind. Werden wir beispielsweise gebeten, jemandem den Kaffee zu reichen, wandert die Information ins Kurzzeitgedächtnis – andernfalls hätten wir schon nach einem Sekundenbruchteil vergessen, was wir gerade tun wollten.

Nur, wenn eine Information für uns wichtig ist, gelangt sie aus dem Ultrakurzzeitgedächtnis in das Kurzzeitgedächtnis – ansonsten wird sie vergessen.

Die Speicherkapazität des Kurzzeitgedächtnisses ist allerdings begrenzt: Kommen neue Inhalte hinzu oder werden wir abgelenkt, werden die alten Informationen durch die neuen quasi „überschrieben“ und ersetzt. Und auch zeitlich stößt das Kurzzeitgedächtnis schnell an seine Grenzen: Oft verweilen Informationen im Kurzzeitgedächtnis nicht länger als ein paar Minuten. Damit ein Inhalt etwas länger im Kurzzeitgedächtnis überdauert, muss man sich immer wieder daran erinnern, etwa durch ständiges Wiederholen.

Aus dem kurzzeitigen Wissen kann ein langfristiges werden – nämlich dann, wenn die Informationen vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis aufgenommen werden.

Manche Wissenschaftler sprechen im Zusammenhang mit dem Kurzzeitgedächtnis auch vom sogenannten Arbeitsgedächtnis. Das Modell des Arbeitsgedächtnisses stellt eine Erweiterung beziehungsweise Präzisierung des Konzepts vom Kurzzeitgedächtnis dar.

Das Langzeitgedächtnis

Zuvor selektierte Informationen können aus dem Kurz- in das Langzeitgedächtnis gelangen, zum Beispiel, wenn wir etwas neu Erlerntes immer wiederholen. Bei weitem nicht jede Informationen, die der Mensch aufnimmt, gerät auch ins Langzeitgedächtnis – sondern nur ein ganz kleiner Teil.

Das Langzeitgedächtnis ist der zentrale und umfangreichste Speicher unseres Gedächtnisses. Sein Speicherplatz ist theoretisch unbegrenzt. Auch länger zurückliegende Ereignisse können beliebig in Erinnerung gerufen werden – etwa der erste Schultag oder der erste Kuss.

Auch wenn es erstaunlich klingt: Alle Inhalte, die jeweils in das Langzeitgedächtnis gelangt sind, bleiben dort dauerhaft erhalten. Dabei bilden sich regelrechte Gedächtnisspuren, sogenannte Engramme, die das Erinnern mithilfe biochemischer Verbindungen ermöglichen.

Das Langzeitgedächtnis lässt sich grob in zwei Typen unterteilen:

  • nichtdeklaratives oder implizites Gedächtnis: Das implizite Gedächtnis steht für Inhalte, die wir unbewusst, quasi voll automatisiert, abrufen – so zum Beispiel Bewegungen und Abläufe wie Gehen oder Fahrradfahren oder auch bestimmte Gewohnheiten.
  • deklaratives oder explizites Gedächtnis: Dieser Teil des Gedächtnisses ist für Inhalte zuständig, die wir bewusst gelernt haben und abrufen können. Es kann wiederum in zwei Formen unterteilt werden:
    • semantisches Gedächtnis: Es beinhaltet Faktenwissen wie etwa Geschichtsdaten oder Grammatik.
    • episodisches Gedächtnis: Hier sind eigene, autobiographische Erfahrungen gespeichert, die wir bewusst abrufen und in einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang bringen können, zum Beispiel, wenn wir uns an unseren letzten Sommerurlaub erinnern.

Mehrere Speicherorte

Je nachdem, um welche Information es sich handelt, werden Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis an unterschiedlichen Orten gespeichert.

Erlernte, automatische Abläufe werden vor allem im Kleinhirn und in den Basalganglien verarbeitet die sich unter der Rinde des Großhirns befinden. Reine Fakten werden dagegen insbesondere in der linken Gehirnhälfte gespeichert.

Autobiographisches Wissen ist auf der rechten Hirnhälfte in Stirnhirn und Schläfenlappen anzusiedeln, gespeicherte Sinneseindrücke dagegen in den sogenannten primär-sensorischen Feldern, welche Reize der Sinnesorgane verarbeiten. Die Speicherorte agieren jedoch nicht getrennt voneinander, sondern sind miteinander verknüpft.

Wie wir vergessen

Wenn Informationen nicht in das Langzeitgedächtnis gelangen – zum Beispiel, weil wir sie nicht als wichtig erachtet haben – werden sie rasch wieder gelöscht: Die eben noch präsente Telefonnummer ist dann zum Beispiel ebenso aus dem Gedächtnis verschwunden wie die Erinnerung an den vorletzten Werbespot im Fernsehen.

Anders sieht es beim Langzeitgedächtnis aus, in welchem Informationen dauerhaft gespeichert sind. Wenn das Langzeitgedächtnis jedoch einen großen unbegrenzten Speicherplatz darstellt, aus dem keine Informationen gelöscht werden, wieso vergessen wir dann überhaupt Dinge, die über das Kurzzeitgedächtnis hinausgehen? Man geht davon aus, dass beim Vergessen die im Langzeitgedächtnis enthaltenen Daten zwar weiterhin vorhanden sind, jedoch nicht mehr abgerufen werden können. Die Informationen sind quasi "verschüttet", aber nicht verloren.