Ein Mann trinkt Alkohol.
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Suchtexpertin: "Drogenabhängige sind häufig Gewohnheitsmenschen"

Von: Lydia Klöckner (Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 30.03.2020

Cannabis, Alkohol, Zigaretten, Kokain: Es gibt viele verschiedene Drogen, die sich in ihrer Wirkungsweise stark unterscheiden. Gemein ist allen Drogen, dass sie süchtig machen. Wie kommt das? Ist Drogensucht eine Charakterschwäche oder eine Krankheit? Beides, meint die Forscherin Dr. Karen Ersche.

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

Suchtexpertin: "Drogenabhängige sind häufig Gewohnheitsmenschen"

Drogen machen krank. Im schlimmsten Fall hat ihr Konsum tödliche Folgen. Dennoch gelingt es Menschen, die süchtig nach Alkohol, Zigaretten oder gar Kokain sind, meist nicht, damit aufzuhören.

Warum das so ist, mit dieser Frage beschäftigt sich die Hirnforscherin Dr. Karen Ersche von der Cambridge University seit vielen Jahren. Im Interview erklärt sie, wie eine Drogensucht das Gehirn verändert und welche Charaktereigenschaften das Risiko für eine Abhängigkeit erhöhen.

Suchtexpertin im Interview

Onmeda.de: Frau Dr. Ersche, viele Menschen sehen Sucht als Charakterschwäche, als Zeichen mangelnder Disziplin. Offiziell gilt Drogenabhängigkeit jedoch als Krankheit. Welche Sichtweise trifft Ihrer Ansicht nach am ehesten zu?

Dr. Karen Ersche: Sucht ist eine Krankheit, die sich unter anderem dadurch äußert, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle geschwächt ist. Den Betroffenen fällt es schwer, gewohntes Verhalten zu ändern – selbst, wenn sie wissen, dass es ihnen schadet.

Dr. Karen Ersche ist Psychologin. Sie kommt aus Deutschland, arbeitet aber seit über 15 Jahren an der britischen Cambridge University, wo sie die Ursachen von Suchterkrankungen erforscht.

Wie kommt es zu einer Sucht?

Ersche: Die Entstehung einer Abhängigkeit ist sehr komplex und noch nicht vollständig geklärt. Man weiß aber bereits, dass Rauschmittel in verschiedene Gehirnsysteme eingreifen. Welche das sind und wie genau, ist von Droge zu Droge unterschiedlich. Gemein ist den Substanzen, dass sie das Belohnungssystem aktivieren und das Kontrollsystem schwächen.

Wie genau führt das zu einer Abhängigkeit?

Ersche: Das Belohnungssystem spielt eine sehr wichtige Rolle bei bestimmten Lernprozessen, auch beim Lernen neuer Gewohnheiten. Reagieren wir auf eine bestimmte Situation mit einer bestimmten Handlung, die dann zu einem erfolgreichen Ergebnis führt, springt das Belohnungssystem an. Es belohnt uns gewissermaßen für den erfolgreichen Lernprozess, indem es positive Gefühle auslöst.

Das hat zur Folge, dass wir uns beim nächsten Mal, in dem wir mit dieser Situation konfrontiert werden, ähnlich verhalten. Je häufiger wir die Handlung wiederholen, umso weniger müssen wir darüber nachdenken. Das Belohnungssystem trägt also dazu bei, dass sich neue Gewohnheiten im Gehirn festigen. So werden bewusste Verhaltensweisen irgendwann zu automatisierten Routinen.

Beim Autofahren ist das sehr praktisch. Wenn sich die einzelnen Handlungschritte nicht als Gewohnheiten ausbilden würden, dann könnten wir uns beim Autofahren auch nicht gleichzeitig mit dem Beifahrer unterhalten oder multi-tasken. Im Falle des Drogenkonsums ist es jedoch verheerend, weil die Kontrolle über die Gewohnheiten verloren geht.

Sucht ist also als eine Form von Gewohnheit?

Ersche: Ja, nur deutlich hartnäckiger. Eine Sucht lässt sich nicht so leicht durchbrechen wie alltägliche Gewohnheiten. Drogen haben eine viel stärkere Wirkung auf das Belohnungssystem. Sie sorgen dafür, dass das Gehirn regelrecht mit Dopamin (einem euphorisierenden Botenstoff) geflutet wird. Zugleich schwächen sie das Kontrollsystem. Das sind Nervennetzwerke im Gehirn, die für die bewusste Verhaltenssteuerung zuständig sind. Deshalb fällt es Suchtkranken so schwer, mit dem Konsum aufzuhören, obwohl sie wissen, dass nicht gut für sie ist, was sie da grade tun.

Allerdings werden ja nicht alle Menschen, die Rauschmittel nehmen, abhängig. Viele Menschen trinken über Jahre hinweg gelegentlich Alkohol, ohne eine Sucht zu entwickeln.

Ersche: Das gilt nicht nur für Alkohol. Man schätzt, dass weniger als 20 Prozent der Menschen, die gelegentlich Kokain nehmen, eine Sucht entwicheln. Die anderen nennen wir recreational users, also Freizeit-Konsumenten. Ihnen gelingt es, die Kontrolle über ihren Konsum zu behalten.

Wie ist denn das möglich, wenn Drogen doch offenbar so stark auf das Gehirn eingreifen?

Ersche: Ich beschäftige mich in meiner Forschung seit Jahren mit der Frage, warum bestimmte Menschen süchtig werden und andere nicht. In meinen Studien hat sich gezeigt, dass bestimmte Ausprägungen des Gehirns das Risiko für eine Sucht erhöhen. Außerdem habe ich herausgefunden, dass Gehirne drogensüchtiger Menschen gewisse Besonderheiten aufweisen, die die Betroffenen anfällig für eine Abhängigkeit machen.

Welche Auffälligkeiten sind das?

Ersche: Die Fähigkeit, Gewohnheiten auszubilden ist bei Drogenabhängigen besonders stark ausgeprägt, während ihre Handlungskontrolle schwach ausgeprägt ist. Drogen nutzen das aus und zwar auf ganz gemeine Weise, indem sie in unsere Verhaltenssteuerung eingreifen. Das Kontrollsystem im Gehirn ist bei ihnen also geschwächt.

Sagten Sie nicht, das sei eine Folge des Drogenkonsums?

Ersche: Ja, aber nicht nur, und das ist das Interessante: Meine Studien legen nahe, dass diese Schwäche schon besteht, bevor die Betroffenen mit dem Konsum beginnen. Zum Beispiel hat eine meiner Untersuchungen gezeigt, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle auch bei Geschwistern von Suchtkranken schwächer ausgeprägt ist – obwohl sie keine Drogen nehmen. Und wer schon von Natur aus eine schwache Selbstkontrolle hat, der ist den Drogen schnell verfallen.

Was Geschwisterstudien über Sucht verraten
  • In einer ihrer Studien unterzog die Suchtforscherin Karen Ersche 50 drogenabhängige Menschen verschiedenen psychologischen Tests. Die Probanden waren süchtig nach Kokain. Das Besondere: Nicht nur die Abhängigen selbst sollten die Testaufgaben lösen, sondern auch ihre nicht drogenabhängigen Geschwister.
  • Wie erwartet zeigten die Abhängigen in den Tests deutliche Schwächen. Etwa brauchten sie in einem Test der Selbstkontrolle, dem sogenannten Stop-Signal-Test, überdurchschnittlich lange, ein gelerntes Verhaltensmuster zu ändern. Die Handlungen, die sie im ersten Teil des Tests lernen sollten, wurden bei ihnen zu einer so festen Gewohnheit, dass sie in der zweiten Testphase – in der es darum ging, die Handlungen bewusst zu unterdrücken – große Schwierigkeiten hatten, sie zu unterlassen.
  • "Die Abhängigen hatten einen längeren Bremsweg", sagt Karen Ersche. Das überraschte die Forscher nicht: Dass Drogen die Handlungskontrolle schwächen, war ihnen ja bekannt. Aber erstaunlicherweise schnitten auch die Geschwister in diesem Test schlecht ab – obwohl sie keine Drogen nehmen.
  • Das werten wir als deutliches Zeichen dafür, dass es eine Prädisposition für Abhängigkeitserkrankungen gibt. "Geschwister von Drogenabhängigen haben ein achtfach erhöhtes Risiko drogenabhängig zu werden, wenn sie mit dem Drogenkonsum anfangen", sagt die Suchtexpertin. Das hat sich dann in weiteren Untersuchungen bestätigt.
  • Als die Forscher die Gehirne der Studienteilnehmer mit bildgebenden Verfahren untersuchten, stellte sich heraus: Sowohl bei den Süchtigen als auch bei ihren Geschwistern wiesen bestimmte Hirnbereiche deutlich weniger Substanz auf als es für Menschen ihres Alters normal wäre. "Die Anomalien betrafen vor allem Bereiche, die für die Verhaltenskontrolle wichtig sind", sagt Karen Ersche.
  • Ob diese Anomalien im Gehirn erblich bedingt sind oder nicht, ist noch unklar. "Es kann auch sein, dass Umweltfaktoren diese Gehirnveränderungen bewirkt haben", sagt Karen Ersche. Auffällig war, dass fast alle Studienteilnehmer eine schwierige Kindheit hatten und viel Stress in der Jugend durchlebt haben. "Das könnte sich auf die Entwicklung des Gehirns ausgewirkt haben", sagt die Forscherin. Bei den Abhängigen, aber eben auch bei ihren Geschwistern.
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Es gibt also tatsächlich so etwas wie eine Suchtpersönlichkeit?

Ersche: Von einer Suchtpersönlichkeit würde ich nicht sprechen. Es handelt sich um einzelne Charaktermerkmale und Schwächen in gewissen Bereichen. Beispielsweise hat sich in meinen Studien gezeigt, dass Drogenabhängige häufig Gewohnheitsmenschen sind. Sie mögen Routinen, das heißt, der Drogenkonsum wird ritualisiert und eine bestimmte Umgebung kann diese Routinen triggern.

Zum Beispiel gehen sie nach Feierabend immer in die Kneipe, immer in die gleiche, und immer dort konsumieren sie Kokain. Regelmäßige Handlungen, die sich zu Gewohnheiten entwickeln, müssen aber nicht immer mit dem Konsum von Kokain zusammenhängen. Die Neigung zum Gewohnheitshandeln zeigt sich auch bei ganz täglichen Verhaltensweisen, wie beispielsweise jeden Tag das Gleiche zu frühstücken, immer das gleiche Shampoo zu kaufen oder sich im Bus immer an den gleichen Platz zu setzen.

Ist es denn möglich, eine Sucht zu verhindern, selbst wenn man ein erhöhtes Risiko dafür hat?

Ersche: Natürlich. Menschen, die ein erhöhtes Risiko für eine Abhängigkeit haben, sollten am besten gar nicht mit Drogenkonsum anfangen, oder wenn sie anfangen, dann am besten als Erwachsene. Leider ist das aber häufig nicht der Fall, denn besonders für Judengliche ist der Gebrauch von Drogen reizvoll, aus vielerlei Gründen wie aus Langeweile oder dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Das ist verheerend, denn in der Jugend befindet sich das Gehirn noch in der Entwicklung und ist besonders leicht beeinflussbar.

Was können Eltern tun, um zu verhindern, dass ihre Kinder drogensüchtig werden?

Ersche: Ein Weg der Prävention wäre es, den Jugendlichen ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, damit sie ihre Experimentierfreude stillen können und dafür nicht zu Drogen greifen müssen. Optimal sind Freizeitaktivitäten, bei denen sie – ohne Drogen – soziale Kontakte knüpfen können.

Wichtig ist auch, die berufliche Perspektive für junge Menschen auszubauen, also dass sie nach der Schule eine Berufsausbildung beginnen können. Wer ausgelastet ist, kommt nicht so schnell auf die Idee, Drogen auszuprobieren, und es steht dann viel mehr auf dem Spiel, was sie durch Drogen verlieren können.

Einige Wissenschaftler kritisieren Ihre Perspektive auf die Sucht. Diese Forscher behaupten zum Beispiel, Sucht sei keine Krankheit, denn die Betroffenen hätten ja die Wahl, mit dem Konsum aufzuhören.

Ersche: Die wissenschaftlichen Daten sprechen dagegen. Am Anfang ist der Konsum eine bewusste Entscheidung, doch keiner der Konsumenten entscheidet sich bewusst dafür, eine Sucht zu entwickeln. Je länger die Betroffenen Drogen nehmen, umso mehr wird der Drogenkonsum zum Zwang. Und für Menschen, die – von ihren neurobiologischen Voraussetzungen her – besonders anfällig für eine Abhängigkeit sind, ist es besonders schwierig, aus eigener Kraft aufzuhören.

Wenn sich Suchtkranke in Behandlung begeben, erhalten sie in der Regel eine Psychotherapie. Allerdings werden viele von ihnen rückfällig. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ersche: Rückfälle sind leider Teil der Krankheit und kein Versagen. Häufig schaffen es Betroffene, während der Therapie abstinent zu leben, doch sie werden dann rückfällig, wenn sie wieder in ihrer alten Umgebung sind. Auch wenn man die Gründe für den Rückfall findet, kann das nicht unbedingt den nächsten Rückfall verhindern. Häufig wissen die Abhängigen, was schief gelaufen ist, und es passierte dennoch. Sicherlich könnte man versuchen, das Kontrollsystem der Betroffenen zu stärken, doch ist das oft wenig erfolgversprechend

Welche Möglichkeit gibt es dann, Drogenabhängige dauerhaft aus ihrer Sucht zu befreien?

Ersche: Wenn innere Kontrollfunktionen versagen, werden diese schnell von außen übernommen. So kann es zum Beispiel helfen, das Umfeld zu wechseln. Dann fallen viele Trigger weg, also Reize, die sie früher zum Konsum verleitet haben. Wenn ein Alkoholiker auf dem Nachhauseweg an seiner Stammkneipe vorbeikommt, sollte er seine Route ändern. Leider kann man aber nicht alle Reize ausschalten, die zum Trinken verführen. In der Therapie kann man deshalb versuchen, diese Reize mit neuen Handlungen zu verknüpfen, die dann nicht in den Konsum münden.

Wäre das so einfach, hätten es die Betroffenen sicherlich schon getan, oder?

Ersche: Schlechte Gewohnheiten durch gute zu ersetzen, ist nicht einfach. Wenn es sich dabei um Drogenkonsum handelt, erst recht nicht. Dann ist intensives Training nötig, für das die Psychotherapie einen guten Rahmen bietet. Häufig reicht eine Verhaltenstherapie nicht aus. Sucht ist eine sehr komplexe Erkrankung, die sich nur durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen behandeln lässt.