Folsäuremangel: Warum werden Lebensmittel in Deutschland nicht angereichert?
Folsäure kann schweren Geburtsfehlern vorbeugen. Darum sind in vielen Ländern Lebensmittel – wie Mehl – mit dem Vitamin angereichert. Deutschland macht jedoch nicht mit. Was sind die Hintergründe?
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Folsäurebedarf & Mangel
Folsäure ist ein lebenswichtiges Vitamin aus dem Vitamin-B-Komplex. Wir müssen genug davon zu uns nehmen, um gesund zu bleiben.
Wie viel Folsäure braucht der Körper?
Erwachsene brauchen 300 Mikrogramm (µg) Folsäure pro Tag. Wer sich immer gesund und abwechslungsreich ernährt, kann diesen Wert erreichen. Viele Menschen in Deutschland tun das jedoch nicht. Das heißt allerdings noch nicht, dass sie einen Folsäuremangel mit entsprechenden Symptomen haben.
Doch unter bestimmten Umständen – zum Beispiel in der Schwangerschaft und Stillzeit, während der Pubertät oder bei einer Schilddrüsenüberfunktion – ist der Bedarf an Folsäure erhöht. Bei Schwangeren beispielsweise beträgt er rund 550 µg Folsäure pro Tag.
Welche Folgen hat Folsäuremangel bei Schwangeren?
Wenn Frauen in der Schwangerschaft zu wenig Folsäure im Blut haben, können beim Kind Fehlbildungen am Rücken (Spina bifida) und im Gehirn (Anenzephalie) entstehen. Beides sind sogenannte Neuralrohrdefekte.
Was tut Deutschland dagegen?
Seit Mitte der 1990er Jahre empfehlen Frauenärzte allen Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten, zusätzlich 400 µg Folsäure täglich als Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen.
Die als Neuralrohrdefekte bezeichneten Fehlbildungen am Rücken oder Gehirn entstehen während der 3. bis 4. Schwangerschaftswoche. Also muss bereits in der Frühschwangerschaft genug Folsäure im Körper vorhanden sein. Darum sollten Frauen schon vor einer Schwangerschaft mit der Nahrungsergänzung beginnen.
Reichen diese Empfehlungen?
Nein, denn viele Frauen in Deutschland kennen oder beachten diese Empfehlungen nicht. Nur etwa fünf Prozent der Frauen zwischen 18 und 49 Jahren erreichen die Menge Folsäure, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Vorbeugung von Neuralrohrdefekten empfiehlt.
Die meisten Frauen in Deutschland haben zu wenig Folsäure im Blut, um das Risiko für Neuralrohrdefekte senken zu können.
Was tun gegen den Folsäuremangel?
Auch in anderen Ländern – wie den USA, Kanada, England, Ungarn und den Niederlanden – nehmen die meisten Frauen keine Folsäuretabletten ein. Darum setzen viele Länder schon lange auf mit Folsäure angereicherte Lebensmittel, um Neuralrohrdefekten bei Babys vorzubeugen.
So reichert man in den USA und Kanada schon seit 1998 Grundnahrungsmittel (wie Mehl und Nudeln) mit Folsäure an. Damit nimmt jeder Bewohner dieser Länder durchschnittlich 120 µg Folsäure pro Tag zusätzlich auf. Seitdem hat sich die Zahl der Neugeborenen mit Neuralrohrdefekt halbiert.
In Deutschland kommen jedes Jahr schätzungsweise 1.000 Babys mit einem Neuralrohrdefekt zur Welt. Bei einer besseren Versorgung mit Folsäure wären es also wahrscheinlich nur halb so viele.
Gibt es hier keine mit Folsäure angereicherten Lebensmittel?
Auch in Deutschland sind Lebensmittel auf dem Markt, die teils mit Folsäure angereichert sind (wie Salz, Frühstückscerealien oder Multivitaminsäfte). Vorgeschrieben ist das jedoch nicht – und Kontrollen gibt es auch nicht.
Jedenfalls reichen die freiwillig mit Folsäure angereicherten Lebensmittel in Deutschland offenbar nicht aus, um junge Frauen ausreichend mit dem Vitamin zu versorgen.
Warum macht Deutschland nicht mit?
Die Entscheidung basiert auf den Empfehlungen des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). Das BfR prüfte im Jahr 2017, welchen Nutzen und welche Risiken eine Anreicherung von Mehl mit Folsäure habe würde.
Danach riet das BfR davon ab, die Zufuhr von Folsäure für die gesamte Bevölkerung zu erhöhen. Die Begründung:
- Nach Einschätzung des BfR wäre die erhöhte Folsäurezufuhr nur für Frauen vor oder in einer Schwangerschaft vorteilhaft.
- Anderen Bevölkerungsgruppen würden angereichertes Mehl und daraus hergestellte Produkte keinen Nutzen bringen. Stattdessen sieht das BfR sogar Risiken einer zu hohen Zufuhr von Folsäure:
- Zum einen könne Folsäure in ständiger Überdosierung unter bestimmten Bedingungen womöglich das Krebsrisiko erhöhen.
- Zum anderen habe eine hohe Folsäurezufuhr bei älteren Menschen schon kognitive Funktionen (wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Intelligenz, Lernen) beeinträchtigt – vor allem, wenn die Betroffenen gleichzeitig wenig Vitamin B im Blut hatten.
Was empfiehlt das BfR stattdessen?
Das Bundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt, die Zufuhr von Folsäure nur bei Frauen im gebärfähigen Alter und in der Frühschwangerschaft zu steigern. Zum Beispiel durch …
- … bessere Aufklärung über Sinn und Zweck der zusätzlichen Folsäurezufuhr.
- … die Bestimmung der Folsäurekonzentration im Blut beim Frauenarzt, um Frauen mit Folsäuremangel gezielt versorgen zu können.
Gibt es Kritik an der BfR-Empfehlung?
Ja, aus mehreren Gründen: So müsse es nach Ansicht der Kritiker schon zu denken geben, dass das englische Scientific Advisory Committee on Nutrition die Nutzen und Risiken von Folsäure in Lebensmitteln ganz anders einschätzt als das Bundesinstitut für Risikobewertung – und dementsprechend empfiehlt, die Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure vorzuschreiben.
Und auch die International Teratology Society spricht sich dafür aus, dass weltweit alle Regierungen die verpflichtende Folsäureanreicherung einführen sollten, damit die Menschen etwa 150 µg Folsäure zusätzlich pro Tag zu sich nehmen.
Weitere Kritikpunkte an der Entscheidung des Bundesinstituts lauten zum Beispiel:
- Das BfR hat das Krebsrisikos durch überdosierte Folsäure basierend auf einem Wert eingeschätzt, der sich gar nicht dazu eignet. Zudem ist der Zusammenhang zwischen Krebs und Vitaminen unter Wissenschaftlern stark umstritten.
- Das Vorgehen des BfR entsprach nicht den geltenden Kriterien für eine unabhängige wissenschaftliche Bewertung von Gesundheitsrisiken. So hat das BfR beispielsweise die verfügbare wissenschaftliche Literatur zum Thema Folsäure nur teilweise berücksichtigt.
Die Kritiker halten es darum für angebracht, die vorhandenen Studien nach anerkannten wissenschaftlichen Standards erneut zu bewerten. Zumal eine aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichung – anders als das BfR – zu dem eindeutigen Ergebnis kommt, dass die Vorteile einer erhöhten Zufuhr von Folsäure deutlich überwiegen.
Folsäure kann vielleicht noch viel mehr
Wenn Frauen vor und während der Schwangerschaft gut mit Folsäure versorgt sind, scheint das eine größere Wirkung zu haben als gedacht. Den Eindruck hat man vor allem in den Ländern, wo schon länger mehr Folsäure in Lebensmitteln steckt. So kann das Vitamin womöglich auch ...
- ... das Risiko senken für:
- eine Präeklampsie bei der Mutter,
- eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte beim Kind,
- Herzfehler beim Kind,
- bestimmte kindliche Tumoren (wie den Wilms-Tumor),
- Psychosen beim Kind und
- Autismus beim Kind.
- … die Entwicklung der Hirnrinde beim Fötus positiv beeinflussen.
- … vor der fruchtschädigenden Wirkung des Antiepileptikums Valproinsäure schützen.