Man sieht  eine MRT-Aufnahme des Gehirns.
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Lissenzephalie

Von: Onmeda-Redaktion
Letzte Aktualisierung: 18.01.2022

Die Lissenzephalie ist eine seltene Fehlbildung am Gehirn infolge einer gestörten Gehirnentwicklung. Sie führt zu schweren Behinderungen beim Neugeborenen.

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

Überblick

Der Begriff Lissenzephalie bedeutet glattes Gehirn (griech. lissos = glatt, enzephalon = Gehirn) und beschreibt das typische Merkmal der Gehirnfehlbildung:

  • Bei der Lissenzephalie fehlen dem Gehirn die Windungen (Gyri), sodass die Gehirnoberfläche entweder völlig glatt ist (sog. Agyrie),
  • oder die Hirnwindungen zumindest unvollständig ausgebildet sind (sog. Pachygyrie).

Jede Lissenzephalie ist die Folge einer sogenannten Migrationsstörung (Wanderungsstörung) der Nervenzellen des Gehirns in den ersten ein bis vier Monaten der Entwicklung des Fötus. Hierfür kommen vor allem erbliche Ursachen infrage, aber auch Vergiftungen, Viruserkrankungen oder eine unzureichende Sauerstoffversorgung des Gehirns von Ungeborenen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten.

Mithilfe der sogenannten Pränataldiagnostik ist es möglich, eine Lissenzephalie schon vor der Geburt zu diagnostizieren: Oft gelingt es, die Gehirnfehlbildung bei der Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) festzustellen. Daneben sind eine Ultraschalluntersuchung und vor allem die vorgeburtliche Magnetresonanztomographie (MRT) geeignet, um das Gehirn zu beurteilen.

Bei solchen bildgebenden Verfahren ist jedoch zu beachten, dass ein glattes Gehirn bei einem gesunden Ungeborenen im frühen Stadium der Schwangerschaft der Normalzustand ist: Die Ausbildung der Hirnfalten (Gyrierung) beginnt nicht vor der 22. Schwangerschaftswoche und ist erst bei der Geburt abgeschlossen. Daher kann die bildgebende Diagnostik frühestens ab der 26. Schwangerschaftswoche zeigen, ob eine Lissenzephalie vorliegt.

Fast alle Kinder mit Lissenzephalie bleiben auf der Entwicklungsstufe eines Säuglings stehen. Welche weiteren Symptome im Einzelfall auftreten, hängt vor allem von der Ausprägung der Hirnfehlbildung ab – häufig sind:

Die Behandlung der Lissenzephalie besteht darin, die bestehenden Symptome zu lindern und die betroffenen Kinder ein Leben lang intensiv und liebevoll zu betreuen. Die Gehirnfehlbildung selbst kann man nicht beheben.

Auch bei intensiver Betreuung ist die Lissenzephalie mit einer deutlich verringerten Lebenserwartung verbunden. Die betroffenen Kinder bleiben lebenslang schwere Pflegefälle mit starken geistigen und körperlichen Defiziten.

Definition

Der Begriff Lissenzephalie bedeutet glattes Gehirn (griech. lissos = glatt, enzephalon = Gehirn) und bezeichnet per Definition eine Gehirnfehlbildung infolge einer Entwicklungsstörung des Gehirns. Sie ist durch eine völlig fehlende oder unvollständige Ausbildung der Hirnwindungen (sog. Gyrierung) gekennzeichnet:

  • Bei der vollständigen Lissenzephalie fehlen die Hirnwindungen (Gyri) und Furchen (Sulci) in der Großhirnrinde (Kortex) völlig. Diesen Zustand bezeichnet man als Agyrie. Die Gehirnoberfläche sieht völlig glatt aus.
  • Bei der unvollständigen Lissenzephalie zeigt sich die Gyrierungsstörung durch wenige breite Hirnwindungen und flache Furchen. Diesen Zustand nennt man Pachygyrie. Daneben kann das Gehirn auch Bereiche ganz ohne Hirnwindungen und Furchen aufweisen.

Eine Lissenzephalie findet sich bei einer Reihe von Entwicklungsstörungen des Gehirns, die zu schweren Behinderungen bei Neugeborenen führen. Hierzu zählen:

Lissenzephalien sind selten: Alle Syndrome, die mit einer Lissenzephalie einhergehen, weisen zusammen eine Wahrscheinlichkeit von etwa 1:20.000 bis 1:100.000 auf.

Gehirnentwicklung

Die Lissenzephalie ("glattes Gehirn") ist bei Ungeborenen zunächst ein normaler Zustand der Gehirnentwicklung: Das menschliche Gehirn beginnt erst ab der 22. Schwangerschaftswoche damit, Hirnwindungen (Gyri) auszubilden. Völlig abgeschlossen ist die Einfaltung des Gehirns (sog. Gyrierung) erst am Ende der Schwangerschaft.

Die Definition der Lissenzephalie als Gehirnfehlbildung ist also erst dann richtig, wenn die Bildung der Hirnwindungen im normalen Verlauf der Gehirnentwicklung vermindert ist oder ausbleibt.

Die krankhafte Lissenzephalie ist die Folge einer sogenannten Migrationsstörung (Wanderungsstörung) der Nervenzellen des Gehirns in der Gehirnentwicklung des Fötus während der ersten vier Monate der Schwangerschaft:

  • Im ersten Schwangerschaftsmonat beginnt sich das menschliche Gehirn auszubilden, wobei die Zellentwicklung hauptsächlich in der Auskleidung der Hirnbläschen (Neuroepithel) stattfindet.
  • Während des zweiten Schwangerschaftsmonats beginnen sich die Zellen des Stützgewebes (Gliazellen) an der Hirnoberfläche zu bilden.
  • Während des dritten und vierten Schwangerschaftsmonats ranken sich die Nervenzellen an diesen Gliazellen entlang an die Hirnoberfläche. Dabei erreichen die zuletzt gebildeten Nervenzellen die oberste Schicht der Gehirnoberfläche (Großhirn).

Bei einer normalen Gehirnentwicklung befindet sich eine große Anzahl Nervenzellen unter der Oberfläche der Großhirnrinde (Kortex). Die Großhirnrinde ist der Sitz des menschlichen Bewusstseins und seiner intellektuellen Fähigkeiten. Bei einer Lissenzephalie erreichen zahlreiche Nervenzellen die Großhirnrinde nicht, weil sie auf ihrer Wanderung (Migration) stecken geblieben sind. Wegen dieser Gyrierungsstörung können sich zahlreiche notwendige Verbindungen in der Großhirnrinde nicht bilden.

Ursachen

Eine Lissenzephalie (d.h. "glattes Gehirn") hat ihre Ursachen in einer sogenannten Gyrierungsstörung: Normalerweise beginnt das menschliche Gehirn beim Fötus um die 22. Schwangerschaftswoche, Hirnwindungen (Gyri) auszubilden. Völlig abgeschlossen ist diese sogenannte Gyrierung am Ende der Schwangerschaft.

Bei der Lissenzephalie ist die Gyrierung vermindert oder unterbleibt völlig.

Die Lissenzephalie ist die Folge einer Migrationsstörung (Wanderungsstörung) von Nervenzellen des Gehirns: Während der Gehirnentwicklung wandern die Nervenzellen im vierten Schwangerschaftsmonat an die Hirnoberfläche. Eine Lissenzephalie entsteht, wenn viele Nervenzellen ihr eigentliches Ziel – die Großhirnrinde – nicht erreichen, weil sie auf der Wanderung (Migration) stecken bleiben. Dann bilden sich zahlreiche notwendige Verbindungen in der Großhirnrinde nicht aus.

In der Regel hat die Lissenzephalie erbliche Ursachen: Häufig ist die Entwicklungsstörung des Gehirns durch Veränderungen im Erbgefüge (sog. Mutationen) bedingt. Diese Veränderungen können spontan entstehen, Eltern können sie aber auch an ihre Kinder vererben. Dies geschieht über einen sogenannten autosomal-rezessiven Erbgang:

  • Autosomal bedeutet, dass das für die Lissenzephalie verantwortliche Erbmerkmal auf einem sogenannten Autosom sitzt: Jeder Mensch besitzt 23 Chromosomenpaare (Chromosomen = fadenförmiger Gebilde im Zellkern, auf denen die Gene liegen) – 22 Paar Autosomen und ein Paar Geschlechtschromosomen. Wegen der autosomalen Vererbung ist die Fehlbildung am Gehirn bei beiden Geschlechtern gleich häufig zu beobachten.
  • Rezessiv bedeutet, dass ein gesundes Gen die Wirkung des defekten Gens übernehmen kann. Wer also von einem Elternteil den Gendefekt und von dem anderen Elternteil ein gesundes Gen geerbt hat, ist gesund. Die Lissenzephalie tritt nur bei Kindern auf, die von beiden Elternteilen je ein defektes Gen erben.

Neben diesen erblichen Ursachen können weitere Faktoren für eine Lissenzephalie (mit)verantwortlich sein. So kommen zum Beispiel folgende Einflüsse in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten als Auslöser der Hirnfehlbildung infrage:

  • bestimmte Virusinfektionen bei Ungeborenen
  • Vergiftungen
  • eine Mangeldurchblutung und damit eine unzureichende Sauerstoffversorgung des Gehirns

Symptome

Die mit einer Lissenzephalie verbundenen Symptome können sehr unterschiedlich sein – je nachdem, wie ausgeprägt die Gehirnfehlbildung ist. Praktisch alle Kinder mit Lissenzephalie haben jedoch eins gemeinsam: Sie bleiben auf der Entwicklungsstufe eines Säuglings beziehungsweise Kleinkinds stehen. In den meisten Fällen sprechen und laufen die betroffenen Kinder nicht und müssen ihr Leben lang gefüttert werden.

Häufig verursacht eine Lissenzephalie als weitere Symptome Hörstörungen und Sehstörungen sowie epileptische Anfälle. Da beim Füttern oft Nahrungsbestandteile in die Atemwege gelangen, kommt es auch häufig zu Lungenentzündungen. Einige Neugeborene mit Lissenzephalie haben außerdem einen Wasserkopf (Hydrocephalus).

Oft ist die Lissenzephalie Teil eines Syndroms – es treten also zusätzliche Symptome auf. Welche das sind, hängt davon ab, welches Syndrom das Kind hat: Eine Lissenzephalie kann unter anderem als

vorliegen. Bei Letzterem hat das Kind beispielsweise ein niedriges Geburtsgewicht und eine auffällige Gesichtsform mit kurzer, nach oben gerichteter Nase.

Diagnose

Bei einer Lissenzephalie ist eine erste Diagnose bei Neugeborenen anhand ihres äußeren Erscheinungsbilds und der Symptome möglich. Um die Verdachtsdiagnose zu erhärten, ist eine Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) des Gehirns geeignet.

Bei diesen bildgebenden Untersuchungen ist die Lissenzephalie in der Regel gut zu erkennen: Die Gehirnoberfläche sieht aufgrund der fehlenden Hirnwindungen völlig glatt aus oder hat nur wenige breite Hirnwindungen und flache Furchen (der Begriff Lissenzephalie bedeutet "glattes Gehirn").

Die Schäden am Erbgut, die bei einigen Formen der Lissenzephalie vorliegen, kann man meist durch eine Erbgutanalyse feststellen: Hierzu sind nur einige Milliliter Blut des Kindes notwendig.

Vorgeburtliche Diagnostik

Bei einer Lissenzephalie ist die Diagnose auch schon vor der Geburt möglich: Für die vorgeburtliche Diagnostik (sog. Pränataldiagnostik) steht beispielsweise die Ultraschalluntersuchung zur Verfügung, die erste Hinweise auf eine Gehirnfehlbildung liefern kann.

Allerdings ist die vorgeburtliche Ultraschalluntersuchung bei der Lissenzephalie nicht sehr zuverlässig. Um das Gehirn genauer zu beurteilen, ist die vorgeburtliche Magnetresonanztomographie (MRT) als Diagnostik besser geeignet. Daneben kann eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) dabei helfen, eine Lissenzephalie zu diagnostizieren.

Beide bildgebenden Verfahren (Ultraschall und MRT) sind für die vorgeburtliche Diagnostik einer Lissenzephalie frühestens ab der 26. Schwangerschaftswoche sinnvoll: Erst dann ist das für die Lissenzephalie kennzeichnende Fehlen der Hirnwindungen (Gyri) erkennbar. Der Grund: Die Ausbildung der Hirnfalten (Gyrierung) beginnt nicht vor der 22. Woche und ist erst bei der Geburt abgeschlossen. In früheren Stadien der Schwangerschaft ist ein glattes Gehirn bei einem gesunden Ungeborenen demnach der Normalzustand und kein Anzeichen einer Gyrierungsstörung.

Therapie

Bei einer Lissenzephalie besteht die Therapie darin, die Symptome der Gehirnfehlbildung zu lindern und die betroffenen Kinder ein Leben lang intensiv und liebevoll unter ärztlicher Mithilfe zu betreuen:

So können Sie beispielsweise orthopädische Beschwerden, wie eine Fehlstellung der Gelenke bei der isolierten Lissenzephalie-Sequenz, mit Krankengymnastik und Beschäftigungstherapie behandeln. Eine Therapie, mit der man die Ursachen der Entwicklungsstörung der Großhirnrinde beseitigen oder deren Auswirkungen abschwächen kann, steht bisher nicht zur Verfügung.

Verlauf

Nicht jede Lissenzephalie zeigt denselben Verlauf: Wie sich die Gehirnfehlbildung im Einzelnen auswirkt, hängt von ihrer Form beziehungsweise von dem vorliegenden Syndrom ab. Lissenzephalien finden sich bei einer Reihe von Entwicklungsstörungen des Gehirns – Beispiele hierfür sind:

Entsprechend unterschiedlich ist die Prognose für Lebensqualität und Lebensdauer der betroffenen Kinder. In der Regel bleiben fast alle Kinder mit einer Lissenzephalie auf der Entwicklungsstufe eines Säuglings stehen und haben trotz intensiver Betreuung eine deutlich geringere Lebenserwartung.

Vorbeugen

Einer Lissenzephalie können Sie nur begrenzt vorbeugen: Die einzige wirksame Maßnahme besteht darin, sich bei einer Risikoschwangerschaft (z.B. wenn Sie mit über 35 Jahren schwanger sind oder wenn familiäre Auffälligkeiten bestehen) für vorgeburtliche Untersuchungen im Rahmen einer Pränataldiagnostik zu entscheiden.

Wenn sich hierbei zeigt, dass Ihr ungeborenes Kind eine Lissenzephalie hat, können Sie die Schwangerschaft abbrechen lassen, wenn Sie den Schwangerschaftsabbruch nach ausführlicher Beratung wünschen.