Virenhemmende Mittel

Von: Andrea Lubliner (Pharmazeutin und Fachtexterin für medizinische Fachtexte)
Letzte Aktualisierung: 24.10.2022 - 14:34 Uhr

auch bezeichnet als:
antivirale Chemotherapeutika ; Chemotherapeutika , antivirale; Virostatika; Virustatika

Wirkstoffe

Folgende Wirkstoffe sind der Wirkstoffgruppe "virenhemmende Mittel" zugeordnet

 

Anwendungsgebiete dieser Wirkstoffgruppe

Virenhemmende Mittel kommen bei Infektionen durch Viren zum Einsatz. Sie können die Symptome von Virusinfektionen lindern und die Dauer der Erkrankungen abkürzen:

  • Lippenherpes, auch Fieberbläschen oder Herpes labialis genannt, wird durch Herpes simplex-Viren verursacht. Mittel der Wahl sind die Wirkstoffe Aciclovir, Docosanol oder Penciclovir, die örtlich angewendet werden.

  • li>Auch Herpes an den Geschlechtsorganen kann durch Aciclovir gelindert werden. Eine Alternative ist der Wirkstoff Famciclovir.
  • Augeninfektionen durch Herpesviren, so beispielsweise eine Hornhautentzündung (Keratitis), lassen sich mit Trifluridin oder Idoxuridin behandeln.
  • Bei der Therapie der Gürtelrose (Herpes zoster) kommen wiederum Aciclovir oder dessen Prodrug Valaciclovir zum Einsatz. Auch eine schwere Windpocken-Infektion, wie sie bisweilen bei stark immungeschwächten Menschen auftritt, kann mit diesen Wirkstoffen behandelt werden.
  • Eine Entzündung des Gehirns verursacht durch Herpes simplex-Viren (Herpes-Enzephalitis) erfordert eine Infusionstherapie mit Aciclovir.
  • Zytomegalie kann verschiedene Krankheitsbilder, beispielsweise eine CMV-Retinitis hervorrufen. Fast immer handelt es sich bei den Betroffenen um immunschwache Personen, beispielsweise AIDS-Patienten. Mittel der Wahl sind Ganciclovir oder dessen Prodrug Valganciclovir. Für die Vorbehandlung infizierter Empfänger von Stammzellen wird Letermovir eingesetzt.
  • Sprechen Herpes- oder Cytomegalieviren nicht mehr auf eine Therapie mit Aciclovir beziehungsweise Ganciclovir an, weil sie resistent geworden sind, kommt der Wirkstoff Foscarnet zum Einsatz. Er muss über die Venen in den Körper gespritzt werden und ruft häufig schwerwiegende Nebenwirkungen hervor.
  • Die Gabe von Neuraminidase-Hemmstoffen oder Amantadin kann den Krankheitsverlauf der Grippe (Influenza) verkürzen und die Schwere der Erkrankung mildern.
  • Zur Behandlung einer chronischen Leberentzündung durch Hepatitis C-Viren werden Interferon alfa-2a, Boceprevir, Entecavir, Sofosbuvir, Elbasvir + Grazoprevir und Ribavirin eingesetzt.
  • Eine chronische Hepatitis B-Infektion kann manchmal mit Lamivudin geheilt werden. Fast immer kann der Wirkstoff die Zerstörung des Lebergewebes (Leberzirrhose) zumindest verzögern.
  • Die HIV-Infektion und die Immunschwäche-Krankheit AIDS werden mit einer Kombination mehrerer virenhemmender Mittel behandelt. Die Wirkstoffe sind meist den Gruppen der Reverse-Transkriptase-Hemmer, HIV-1-Proteasehemmer, HIV-1-Fusionshemmer und HIV-Integrase-Hemmer zugeordnet.
  • Menschliche (humane) Papillomviren (HPV) können verschiedene, meist gutartige Tumoren (so genannte Warzen) hervorbringen. Genitalwarzen können mit Podophyllotoxin oder Imiquimod bekämpft werden.

Wirkung

Viren sind winzige, unbelebte Strukturen, die keinen eigenen Stoffwechsel besitzen. Ihre Erbinformation, die entweder aus Desoxyribonukleinsäure (DNA) oder aus Ribonukleinsäure (RNA) besteht, wird von einem Eiweißmantel (Capsid) geschützt. Manche Viren sind zudem noch von einer Hülle umgeben. Um sich zu vermehren, müssen die Viren in bestimmte Zellen (Wirtszellen) eindringen. Dort missbrauchen sie Material und Ausstattung der Zellen für ihre Vermehrung. Die virale Erbinformation fungiert als Bauanleitung für die Bildung viruseigener Eiweiße und damit zur Herstellung neuer Viren.

Die Viren erkennen ihre Wirtszellen meist anhand bestimmter Rezeptoren auf der Zelloberfläche. Dort haften sie an und veranlassen die Zellen, sie aufzunehmen. Im Zellinneren wird die virale Erbinformation freigesetzt. Die Viren ergreifen die Kontrolle über den Zellstoffwechsel und nutzen die Zelle für ihre Vermehrung. Sind ausreichende Mengen neuer Virus-DNA oder -RNA und virusspezifischer Eiweiße gebildet worden, schließen sich die Einzelteile meist spontan zu funktionsfähigen Viren zusammen. Manchmal wird die Wirtszelle bei der Virusausschleusung zerstört, häufig aber knospen die Viren aus der Zellhülle aus. Aber auch in diesem Fall werden die Zellen oft stark geschädigt, sodass sie absterben oder zumindest ihre Funktion nicht mehr korrekt erfüllen.

Einige Viren bauen ihr Erbgut in das der Wirtszelle ein (zum Beispiel Retroviren). Dazu schleusen sie ihr Erbgut mittels spezieller Enzyme, der Intengrasen, in das der Wirtszellen ein. Oder sie lagern es zumindest über längere Zeit im Zellkern ein und bilden nur von Zeit zu Zeit neue Viren (wie beispielsweise Herpesviren). Eingedrungene Viren können ihre Wirtszellen auch zu verstärktem Wachstum anregen, Tumoren hervorrufen und eventuell sogar die Entstehung von Krebserkrankungen begünstigen (wie beispielsweise Papillomviren).

Angriffspunkte für virenhemmende Mittel sind:

  • das Binden des Virus an Rezeptoren der Wirtszellen
  • das Freisetzen der viralen Erbinformation nach dem Eindringen in die Zelle
  • das "Einklinken" des Virus-Erbgutes in das Erbgut der Wirtszelle
  • die Vermehrung der Virus-RNA oder -DNA sowie die Bildung virustypischer Eiweiße
  • die Ausschleusung neuer Viren.

Nachfolgend einige Wirkungsmechanismen virenhemmender Mittel im Überblick:

  • Docosanol verhindert die Anbindung der Viren an die Hautzellen, Maraviroc verhindert die Anbindung des AIDS-Erregers HIV an die Zellen der körpereigenen Abwehr
  • Amantadin stört die Freisetzung des viralen Erbguts
  • so genannte Nukleosid-Analoga behindern die Bildung neuer viraler Erbinformation, indem sie viruseigene Enzyme hemmen. Dazu gehören Wirkstoffe wie Aciclovir, Ganciclovir, Entecavir, Penciclovir, Sofosbuvir, Valaciclovir und Valganciclovir. Sie ähneln Erbgut (DNA)-Bausteinen und täuschen ein Enzym namens DNA-Polymerase in Herpesviren.
  • Auch Ribavirin und Lamivudin sind Nukleosid-Analoga, nur behindern sie speziell die Funktion bestimmter Enzyme von Hepatitis C-Viren beziehungsweise von Hepatitis B-Viren.
  • Ähnlich arbeiten Reverse-Transkriptase-Hemmer in HI-Viren. Sie lassen sich bei der Umschreibung des Virus-Erbgutes (RNA) durch das Enzym reverse Transkriptase in die wachsende Kette des Zell-Ergutes (DNA) einbauen, führen dann aber zu einem Kettenabbruch und funktionslosen Erbgut-Bruchstücken. Wichtige Vertreter des nukleosidischen Typs sind Abacavir, Emtricitabin, Lamivudin, Zidovudin, Didanosin und Stavudin. Vom Nukleotid-Typ sind Adefovir und Tenofovir.
  • Nicht-nukleosidische reverse Transkriptasehemmer blockieren das Enzym reverse Transkriptase und damit die Umschreibung des Virus- in das Zell-Erbgut. Dazu gehören Delavirdin, Doravirin, Efavirenz, Nevirapin, Etravirin und Rilpivirin.
  • Integrase-Inhibitoren hemmen das Enzym Integrase, mit desses Hilfe die Viren ihr Erbgut in das der Wirtszelle einbauen. Bictegravir, Dolutegravir und Raltegravir sind Vertreter dieser Gruppe
  • Foscarnet hemmt auf ähnliche Weise die Funktion der DNA-Polymerase in Herpesviren
  • HIV-1-Proteasehemmer behindern die Spaltung von Eiweißen, die für die Vermehrung der HI-Viren unabdingbar sind
  • HCV-Protease-Hemmer, zu denen bisher nur Boceprevir und Telaprevir gehören, hemmen eiweißaufbauende Enzyme der Leberzelle, die bei der Vermehrung der Hepatitis C-Viren unverzichtbar sind
  • Neuraminidase-Hemmstoffe beeinträchtigen das Ausschleusen neu gebildeter Grippe-Viren aus der Wirtszelle
  • Letermovir hemmt den CMV-DNA-Terminase-Komplex, eine Enzymgruppe, die neugebildetes Erbgut von Cytomegali-Viren in der Zelle für die Freisetzung in den Organismus vorbereitet.
  • Immunologika wie beispielsweise Interferon alfa-2a versetzen Wirtszellen in erhöhte Abwehrbereitschaft und stören die Virusvermehrung.

Aufgrund der engen Verknüpfung von Zellstoffwechsel und Virusvermehrung sind die Möglichkeiten zur Bekämpfung einer Virusinfektion ohne gleichzeitige Schädigung der Körperzellen begrenzt. So rufen einige virenhemmende Mittel schwerwiegende Nebenwirkungen hervor. Besteht daher die Alternative einer Viruserkrankung durch Impfung vorzubeugen, ist diese Möglichkeit stets vorzuziehen.