Mutterkornalkaloide

Von: Andrea Lubliner (Pharmazeutin und Fachtexterin für medizinische Fachtexte)
Letzte Aktualisierung: 24.09.2007

auch bezeichnet als:
Ergotalkaloide; Mutterkorn-Alkaloide; Secale-Alkaloide

Wirkstoffe

Folgende Wirkstoffe sind der Wirkstoffgruppe "Mutterkornalkaloide" zugeordnet

Anwendungsgebiete dieser Wirkstoffgruppe

Mutterkornalkaloide sind Naturstoffe, die vom Pilz Claviceps purpurea gebildet werden. Der Pilz selber wächst auf Getreideähren. Von den Getreidearten werden vor allem Roggen, Gerste und Triticale (eine besondere Roggenform) befallen, seltener Weizen. Befallenes Getreide mit den durch den Pilz stark vergrößerten und geschwärzten "Mutterkörnern" darf nicht mehr der Nahrungsmittelproduktion dienen. Nimmt man Mutterkorn oft oder in größeren Mengen zu sich, kommt es zu Vergiftungen. Die Anzeichen einer akuten Mutterkornvergiftung sind Übelkeit, Kopfschmerzen, Krämpfe, Gefühllosigkeit in Armen und Beinen, Gebärmutterkrämpfe und Fruchtabgänge. Eine Aufnahme von fünf bis zehn Gramm Mutterkorn kann bei entsprechendem Alkaloidgehalt für Erwachsene tödlich sein. An Mutterkornvergiftung starben im Mittelalter Hunderttausende von Menschen. Roggen war das vorherrschende Brotgetreide, das bei Missernten zu einem Viertel bis zur Hälfte aus Mutterkörnern bestehen konnte.

Für die Medizin stellen die aus Mutterkorn stammenden Alkaloide trotz ihrer Giftigkeit eine wichtige Wirkstoffgruppe dar. Man bedient sich sowohl der natürlichen Formen der Substanzen als auch ihrer chemischen Abkömmlinge. Die Wirkungen sind sehr vielfältig, deshalb werden Mutterkornalkaloide bei unterschiedlichen Erkrankungen eingesetzt:
  • Bei niedrigem Blutdruck, Ohnmachtsanfall und Herz-Kreislaufbeschwerden kommt überwiegend der Wirkstoff Dihydroergotamin zum Einsatz.
  • Zur Therapie von Bluthochdruck wird ein Alkaloid-Gemisch unter dem Namen Dihydroergotoxin verwendet.
  • In der Therapie von Kopfschmerzen und Migräne spielt der Wirkstoff Ergotamin eine wichtige Rolle. Er wird sowohl zur Behandlung als auch zur Prophylaxe eingesetzt. Da er aber bei zu langer Einnahme selber migräneartige Kopfschmerzen und Durchblutungsstörungen auslösen kann, ist er nur Mittel der zweiten Wahl.
  • Andere Mutterkornalkaloide wie Cabergolid, Bromocriptin, Dihydroergocryptin, Lisurid und Pergolid werden bei der Behandlung der Parkinsonkrankheit angewandt.
  • Bromocriptin setzt man außerdem bei der krankhaft vermehrten Bildung des Hormons Prolactin ein. Der Prolactinüberschuss kann zum Beispiel während und nach der Stillzeit zu einem übermäßigen Milchfluss führen.
  • Ein weiteres Anwendungsgebiet des Mutterkornalkaloids Bromocriptin ist die Akromegalie, eine Erkrankung, bei der sich Nase, Ohren, Hände und Füße vergrößern und bei der es zu einer Vergröberung der Gesichtszüge kommt.
  • Auch beim Restless legs-Syndrom, einer neurologischen Erkrankung mit Gefühlsstörungen und Bewegungsdrang in den Beinen, werden Mutterkornalkaloide zur Behandlung verwendet.
  • Schließlich wirken Mutterkornalkaloide wie Methylergometrin auch auf die Muskulatur der Gebärmutter. Von dieser medizinischen Anwendung stammt auch der Name der Substanzgruppe. Mutterkornalkaloide führen dazu, dass sich die Gebärmutter zusammenzieht. Sie werden deshalb bei Frauen nach der Entbindung eingesetzt, wenn sich die Gebärmutter nicht - wie erwartet - zusammengezogen hat. Wegen dieser Wirkung auf die Gebärmutter dürfen Wirkstoffe aus der Substanzgruppe der Mutterkornalkaloide vor und während der Geburt auf keinen Fall eingenommen werden. Es kann nämlich zu einer Unterversorgung des Kindes mit Blut und Nährstoffen kommen.

Wirkung

Die vielfältigen Wirkungen der Mutterkornalkaloide sind daher zu erklären, dass sie ebenso vielfältige Angriffspunkte im Körper haben. So wirken einige auf das vegetative Nervensystem, andere greifen in den Wirkmechanismus des körpereigenen Botenstoffs Dopamin ein.
  • Hauptangriffsort der Mutterkornalkaloide ist das vegetative Nervensystem. Da es von uns nicht willentlich beeinflusst werden kann, wird es auch unwillkürliches oder autonomes Nervensystem genannt.

    Das vegetative Nervensystem durchzieht mit seinen Fasern den gesamten Körper und wird von untergeordneten und daher unbewussten Hirnregionen gesteuert. Es hat die Aufgabe, unsere Körper- und Organfunktionen zu koordinieren und zu regulieren. Es wird von zwei Nervensträngen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus beherrscht, die Gegenspieler sind. Stellt sich der Mensch auf Ruhe und Nahrungsaufnahme ein, übernimmt der Parasympathikus die Steuerung. Im Wachen, bei Aktivität und in Stress-Situationen ist der Sympathikus aktiviert. Er steigert die Fähigkeit zur Arbeitsleistung und liefert Energie für das bewusste Handeln: Die Aufmerksamkeit ist gesteigert, die Pupillen weiten sich, Muskelspannung und Schweißproduktion steigen. Die Muskeln von Magen, Darm, Harnblase und Gebärmutter erschlaffen, der Mund ist trocken, weil weniger Speichel produziert wird. Die Blutgefäße (außer denen des Herzens und der Skelettmuskulatur) verengen sich, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck wird erhöht und die Atmung beschleunigt sich.

    Normalerweise wird die Erregung des Sympathikus durch körpereigene Botenstoffe wie Adrenalin und Noradrenalin (auch "Stresshormone" genannt) ausgelöst. Sie binden sich dabei an unterschiedliche Rezeptoren des Sympathikus und lösen so unterschiedliche Teilreaktionen aus. Die verschiedenen Rezeptoren sind mit "alpha" und "beta" benannt. Die Mutterkornalkaloide wirken an den alpha-Rezeptoren sowohl blockierend (als Sympatholytika) wie auch zum Teil erregend (als Sympathomimetika). Diese eigentlich widersprüchliche Wirkungsweise ist unter anderem davon abhängig, in welchen Organen die alpha-Rezeptoren des vegetativen Nervensystems liegen. Interessant ist in dieser Hinsicht besonders die Wirkung der Mutterkornalkaloide an den Blutgefäßen und an der Gebärmutter.

    1. An den Blutgefäßen können die Mutterkornalkaloide die Rezeptoren sowohl blockieren als auch erregen. Das hängt davon ab, welches Mutterkornalkaloid zur Anwendung kommt und ob der Ausgangsblutdruck erhöht oder niedrig ist. Je nach Ausgangslage (hoher oder niedriger Blutdruck) ziehen sich die Gefäße entweder zusammen oder erweitern sich. Deshalb können einige Wirkstoffe der Mutterkornalkaloide niedrigen Blutdruck, Ohnmachtsanfälle und Herz- und Kreislaufbeschwerden bessern, während andere bei Bluthochdruck helfen. Auch die Behandlung der Migräne lässt sich durch die Wirkung auf die Blutgefäße (hier im Gehirn) erklären. Der Schmerz entsteht durch eine unnormale Weitstellung der Gefäße. Werden die Gefäße durch Mutterkornalkaloide wieder verengt, lässt die Schmerzattacke nach.

    2. An der Gebärmutter binden sich einige Mutterkornalkaloide an die alpha-Rezeptoren der Muskulatur, was eine Zusammenziehung auslöst.

  • Einige Mutterkornalkaloide binden sich ausschließlich an die Rezeptoren des Nerven-Botenstoffs Dopamin im Gehirn und ahmen dessen Wirkung nach. Dieser Effekt wird beispielsweise zur Behandlung der Parkinsonkrankheit genutzt, deren Symptome hauptsächlich von einem Dopaminmangel im Gehirn verursacht werden. Möglicherweise ist dieser Wirkmechanismus auch für die Wirkung beim Restless-legs-Syndrom verantwortlich.

    Die Dopamin-ähnliche Wirkung der Mutterkornalkaloide ist aber nicht nur für die Behandlung der Parkinsonkrankheit wichtig. Mutterkornalkaloide binden sich auch an die Dopamin-Rezeptoren der Hirnanhangdrüse (Hypophyse). Durch diese Bindung unterdrücken sie wie Dopamin die Freisetzung der beiden Hypophysehormone Prolactin und Somatotropin. Mit Mutterkornalkaloiden werden auf diese Weise behandelt:

    1. Übermäßiger Milchfluss
    Das Wachstum der Brustdrüse und die Milchproduktion (Laktation) werden vom Hormon Prolactin gesteuert, das die Hirnanhangdrüse freisetzt. Mutterkornalkaloide hemmen die Prolactin-Freisetzung und unterdrücken damit den Milchfluss, was man sich zum Beispiel beim Abstillen zunutze macht.

    2. Akromegalie
    Der unsymmetrische Wuchs von Körpergliedern im Erwachsenenalter, der als Akromegalie bezeichnet wird, ist durch das Hypophysehormon Somatotropin ausgelöst. Auch seine Freisetzung aus der Hirnanhangdrüse kann durch Mutterkornalkaloide unterdrückt werden.